Besuch der Handschriftensammlung der UB

Diederich digital (13.10.2003)

[Bild: Der Heilige Ulrich stribt]

Ist dies eine Fantasie des Papstes zum Thema der menschlichten Fortpflanzung? Nein, aber die Wahrheit ist mindestens ebenso prickelnd.

Es gibt sie noch, die Universitätsgesellschaft, obschon sie de jure mit dem Verein der Freunde fusioniert wurde. Gerade deshalb wollte man wieder einmal Flagge zeigen und lud zu einem Besuch der Handschriftensammlung der UB, welche von den Mitgliedern der ehemaligen Universitätsgesellschaft stets unterstützt worden ist. Sie war es auch, die Mittel für die Digitalisierung der Handschriften (den gegenwärtigen Stand könnt ihr unter http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/digilit.html bewundern) bereit stellte, welche am Abend des 13.10. in Wort und Bild vorgeführt werden sollte.

Etwas verwunderlich daher, dass Gesellschafts-Geschäftsführer und Finanzrechtler Mußgnug den Anwesenden bei der Einleitung unterstellte, "streitbar" zur Verteidigung des Buches angetreten zu sein. Dabei saß man doch ganz sittsam im Vortragsraum der UB, der früher der Kohlenraum gewesen war. Dann übernahm der im Dezember 2002 inaugurierte neue UB-Chef Probst und verkündete den Verlauf des Abends. In drei Gruppen sollten die Anwesenden die Handschriften, den Digitalisierapparat und zuletzt die Homepage kennenlernen, die einen Zugriff auf die Handschriften übers Web erlaubt.

Einige Folien mit Zahlen brachten den Weitersponsoren in spe die Leistungsfähigkeit der Heidelberger UB, regionale Schwerpunktbibliothek für Geschichte und Archäologie, nahe. Rund Dreieinhalb Millionen Bücher beherberge sie, davon knapp 1 Million Altbestand vor 1900, tägliche Ausleihen im Umfang einer Privatbibliothek gingen täglich vonstatten, hinzu kämen tausende von Anfragen, Artikelbestellungen, Zugriffen über Internet.

Daraus ging letztlich die Motivation zum Digitalisieren der alten Handschriften hervor, die mehrmaliges Ausleihen, Blättern, Eselsohrbiegen und Kopierdeckelpressen nicht lange überstehen würden. Rasch waren die Gruppen nach Sitzreihen eingeteilt, und los ging's, ich marschierte mit der ersten Gruppe mit einer Führungsoffizierin und General Probst selbst ins Direktorzimmer. Dort wartete Herr Schlechter, der Herr der Handschriften, dessen Anzug seine hemdsärmelige Begeisterung für seine Arbeit nicht zuknöpfen konnte.

Nun war die Gesamtveranstaltung auf zwei Stunden angelegt (der Lautenschläger-Forschungspreis harrte seiner Verleihung an eine DKFZ-Koryphäe), was die Dauer jeder der drei "Unterführungen" auf 20 Minuten begrenzte. Für eine systematische Führung durch die Sammlung war das kaum ausreichend, und so beschränke man sich auf pittoreske, i.e. illustrierte, Highlights. Auf eine Karte Heidelbergs mit dem noch unzerstörten Schloß folgten Schriften wie das durchgängig illustrierte "Sigelot", welches den Kampf des Ritters Diederich mit dem Riesen Sigelot und einer Reihe anderer Bad Guys schildert. Auf der Internetpräsentation im letzten Teil sollte Frau Effinger mehrere Seiten hintereinander rasch aufflackern lassen, was die Zeichnungen fast animiert. Dies hat einst Dekanin Saurma veranlasst, das Werk das "Daumenkino des Mittelalters" zu nennen.

Ein etwas ernster zu nehmendes Werk ist die Große Heidelberger Liederhandschrift, der "Codex Manesse" (Zürich 1305 bis 1340), welche das berühmte Bild von Walther von der Vogelweide enthält, oder, für die zahlreichen JuristInnen unter den Gesellschaftsmitgliedern, der Heidelberger Sachsenspiegel, eine Gesetzessammlung von Anfang des 14. Jahrhunderts. Einige Geschichten gab Herr Schlechter zum Besten, wie etwa die Uni Karlsruhe den Inhalt einer Zisterzienserklosterbibliothek kaperte, und Heidelberg nur einige Reste überließ, die sich als teils wertvoll erwiesen, und im Gegensatz zur Karlsruher Bibliothek den Krieg überlebten. Wie ein mächtiges Werk den Weg von Rom nach Heidelberg auf dem Rücken eines Maulesels zurücklegte, mit dem sich der Pedell herumzuschlagen hatte, während der Rektor froh vorausritt, um die Kunde vom glücklichen Erwerb zu verbreiten.

Herr Probst musste den Vortrag abwürgen, da die Zeit drängte; auf der Treppe begegnete uns eine andere Gruppe, die Tour war präzise organisiert. Die nächste Station war die Werkstatt, in der uns Herr Wolf den nach der Stadt seiner Erfindung benannten Grazer Digitalisierungsapparat zeigte. Es handelt sich um eine Spiegelreflex-Digicam mit 14 Megapixeln - jeder Schuß liefert 80 Megabyte, was die Erklärung für den DVD-Brenner, seinerzeit dem ersten auf dem Markt, im Steuer-PC liefert. Ein System aus Aluminiumstangen und Gelenken erlaubt die Bewegung der Kamera in zwei Achsen, gegenseitig verkippbare Platten die Auflage des Buches, ohne dass es ganz geöffnet zu werden braucht, was ältere, steifere Ledereinbände mit Zerbrechen quittieren würden. Die betreffende Seite wird auf eine Schiene mit Luftlöchern gelegt, und mittels durch diese angesaugte Luft in einem 90°-Winkel zur Kamera fixiert. Nach der Aufnahme erscheint die Seite auf dem Schirm, ein Kalibration von Kamera und Schirm sorgt für die realistische Farbdarstellung. Etwa 1000 Seiten pro Stunde sind so erfassbar. Eine Nachbehandlung einzelner Bilder etwa ist aus Personal- und Finanzmangel nicht möglich, wie Herr Probst froh war, auf eine Anfrage von mir loswerden zu können. Im letzten Jahr hat er die Arbeitskraft von 5 Stellen verloren.

Doch der Personalabbau ist nicht sein einziges Problem. Jährlich müssen 200 Quadratmeter weitere Bücher untergebracht werden, gemeint sind Raum-Quadratmeter mit Regalen darauf. 2006, so erzählte er mir, während wir durch den Innenhof in den Vortragsraum zurückkehrten, "sind wir voll", er bemühe sich um weitere Räume im Alfred-Weber-Institut, welches dann wiederum dort ausziehen müsse.

Frau Effinger führte uns nun die Homepage vor, mittels derer die Benutzer (das Wort "User" fiel an dem Abend ebenso wenig wie das von mir erwartete "Front End") im historischen Cyberspace auf die Recherche gehen können. Suchmaschinen, um einzelne Wörter oder Bilder zu finden, stellen einen Vorteil gegenüber der manuellen Suche im Original dar. Dies wurde anhand einer Sneak-Preview des Heidelberger Adressbuchs (1839-1945) demonstriert, dessen Digitalversion noch im Werden ist und bald freigeschaltet wird.

Die Veranstaltung war -- für einen Laien wie mich Physiker -- eine schöne Vorstellung. Für Profis dürfte es etwas seicht gewesen sein. Aber wie gesagt, es ging nicht primär um die Schriften, sondern um deren Digitalisierung. Dass die Schriften dadurch einer größeren Zahl von Profis aller Statusgruppen, und nicht nur einer handverlesenen Elite zur Verfügung stehen, scheint mir ein richtiger Schritt zu sein.

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