Ein Bericht über den Konferenzbetrieb in einer Naturwissenschaft
Der Umzug nach Berlin war für Space doch kein kompletter Abschied -- süße Erinnerungen an seine Studizeit haben sich offenbar doch so laut gerührt, dass er ein paar mit uns teilen möchte -- Red.
Und in ihren Bussen kommen sie gefahren zu diesem atemlosen blinden Spiel (frei nach Rilke - noch ist Zeit für Poesie). Auf der Autobahn überholen wir sie, und werden überholt, meist VW-Busse mit den Emblemen der üblichen verdächtigen Institute aus Stuttgart, Karlsruhe, Leipzig etc. Mit Wasserstoff oder sonst etwas Revolutionärem fahren wir nicht. Viele einzeln Anreisende nehmen auch den Zug, manche wiederum in der Tat den "Flieger".
Das Ziel ist die diesjährige Tagung der Europäischen Geophysikalischen Gesellschaft, kurz "die EGS 2003", die seit 2000 jährlich eine März- oder Aprilwoche lang das Kongreßzentrum in Nizza mit Beschlag belegt. Sie ist die große Konferenz der Umweltphysiker Europas, allerdings kommen stets auch Leute vom Rest des Globus, etwa aus Japan und Rußland, und meist auch aus den USA. Nicht nur Professoren nehmen teil, keineswegs, auch Promovierende und neuerdings gute Diplomandinnen und Diplomanden fahren mit, um die neuen Ergebnisse ihrer Forschungen vorzutragen.
Die Umweltphysik ist eine vergleichsweise junge Disziplin innerhalb der Physik, die, wie seinerzeit etwa die Soziologie, mit gewissen Vorurteilen seitens der etablierten Richtungen wie der Festkörper- oder der Hochenergiephysik zu ringen hat. Diese Ressentiments sind bislang auch nicht im Ozonloch verschwunden oder durch die Klimaerwärmung geschmolzen.
Letztere macht zumindest europäische Drittmittel locker. Vielleicht ist es die Mischung aus Pionier- und Underdog-Rolle, vielleicht die ausgeprägte Gruppenarbeit, fundiert durch gemeinsames Buddeln im Feld bei simultanem Nacht- und Regenbeginn, der die UmweltphysikerInnen zu einer etwas egalitären Spezies macht. Und nun kommt die ganze Familie wieder zusammen.
Unsere Strecke ist wohlvertraut, fast wie der Weg zu den Eltern an Weihnachten. Früh am Morgen gestartet, geht es aus Heidelberg hinaus, an Karlsruhe vorbei ("Vor Karlsruhe will ich niemanden fragen hören, ob wir schon da sind!" -- "Sind wir schon in Karlsruhe?") die Autobahn hinunter durch Süddeutschland. Im Heck des Busses suchen sich die Rucksäcke, Posterbehälter und Notebooktaschen ein neues statisches Gleichgewicht, mit der Heckklappe als Randbedingung, weshalb ein Teil des Krempels demjenigen, der bei der ersten Kurzrast diese öffnet, prompt entgegenkommt. Mein Notebook aber ist hart im Nehmen.
Die größte Sorge gilt den mitgeführten CDs und "USB-Sticks" mit unseren Konferenzbeiträgen. Da nicht alle Mitglieder unserer Arbeitsgruppe (AG) in den Bus passen, fahren noch ein bis zwei PKWs mit. Jedes Fahrzeug erhält eine vollständige Kopie. Selbst wenn zwei davon verunglücken, unsere erstarrten Gliedmaßen sich in den Frühsommersmog recken -- unsere Vorträge über selbigen werden an Bord des dritten Fahrzeugs heil ankommen, und das ist doch das wichtigste.
Es folgen Stunden der Durchtunnelung der Schweiz. Wer die mitgebrachten "Papers" noch nicht durchkämmt hat, schafft es jetzt bestimmt nicht, da der fast halbminütliche Hell-Dunkel-Wechsel das konzentrierte Lesen zumindest beeinträchtigt. Die je nach Fahrerpersönlichkeit flotte Kurvenfahrt tut ein übriges, Coke und Keksrollen sind geeignet festzuklemmen. Damit sollte man sich vor der Grenze eingedeckt haben. Zwar sind Lebensmittel verschiedensten Milchgehaltes in der Schweiz durchaus erhältlich, aber für unsere Scheine geben die Gaststätten Franken als Wechselgeld, was schade ist, da sich der Großteils unseres Lebens denn doch in der Euro-Zone abspielt.
Die große Rast erfolgt auf italienischem Boden. Mit Pizzastücken und Getränken bewehrt setzen wir uns in die Sonne, essen, schöpfen etwas benzinhaltigen Atem, dann geht es weiter. Durch die Po-Ebene müssen wir an Mailand vorbei; trotz nicht ganz durchschaubarer und durch Baumaßnahmen dynamischer Straßenverhältnisse klappt das meistens; manchmal auch nicht ("Wir fahren jetzt um Mailand herum." -- "Aber eben stand auf der Fahrbahn 'Centro'?"). Das Fußballstadion immerhin ist ja auch eine Sehenswürdigkeit. Schließlich kommen wir nach Frankreich und beginnen das Mautstations-Hopping, uns gelegentlich ein Wettrennen mit einem der anderen VW-Busse liefernd. Als es dunkelt, gleiten wir endlich die Strandpromenade von Nizza hinunter und kommen gegen 21.00 in der malerischen Rue de l'hôtel de poste vor dem etwas weniger malerischen Haus an, dessen zweite Etage das "Hotel Wilson" beherbergt (in der Tat, es heißt wie der halbgesichtige Nachbar aus der Heimwerker-Sitcom).
Seit 2000 fahren wir regelmäßig zu dieser Herberge, und die Bataillone meiner AG requirieren die ganze Etage, verteilen sich auf Zwei- und Dreibettzimmer. Nach dem Abladen der Klamotten marschiert die gesamte Abteilung ohne Tritt zunächst zum Konferenzzentrum, wo in einem Zelt die Registrierung stattfindet. Wir Adligen stehen bei so etwas leicht in der falschen Schlange, ich muss zu "V" anstatt zu "F". Vielleicht hätte ich mich als "Space" anmelden sollen, mein Spitzname hat sehr praktische Vorteile. Allerdings hätte das vermutlich die eher humorlose Eingabemaske der EGS-Website nicht mitgemacht.
Mein Name auf dem "Badge" ist zur Abwechslung richtig geschrieben. Das Verzeichnis mit den Listen der Teilnehmenden und der Beiträge spielt jetzt endgültig in der Telephonbuchliga. Dies, der durchaus merkbare Tagungsbeitrag und der Bierzeltcharakter der Registrierungszeremonie geben einen Vorgeschmack auf das Ergebnis der Konferenzgigantomie, die uns dieses Jahr zugemutet werden soll. Danach gehen wir, noch immer geschlossen, in die Altstadt, um ein Lokal zu finden, das ausreichend Plätze für ein Abendessen bietet. Noch einige Minuten verweilen wir danach am Strand, dann fallen wir in die Kojen und schlafen dem ersten Konferenzmorgen entgegen.
Am Morgen ist das enge, aber gemütliche Frühstückszimmer ein letzter frugaler Ruhepol. Danach werden die Posterbehälter und die noch unbeschädigten Notebooks durchgeladen und geschultert, und in kleinen Trupps machen machen wir uns auf den Weg zur "Acropolis". "Acropolis" ist der Name des besagten, neu gebauten Zentrums, das sich wie ein Raumschiff aus einem schlechteren Sci-Fi-Film über Nizza erhebt. Die Form gemahnt eher an Ägypten -- was soll's.
Dieses Jahr wird die Konferenz von besagter EGS zusammen mit dem US-amerikanischen Pendant, der AGU, ausgerichtet. Wegen des Irakkonflikts wurde jedoch nicht wenigen amerikanischen Kollegen nahegelegt, nicht nach Europa, nach Frankreich gar, zu fahren. Physiker sollen zwar laut Dürrenmatt Machtpolitiker werden, die Realität unter George W. sieht offenbar anders aus. Dennoch ist diese Konferenz meine erste mit Waffendetektor. Bis zu dreißig Minuten stehen wir an, um durchgeschleust zu werden in die heilige Halle, die sich bis unter die Stahl-Glas-Dachkonstruktion erhebt.
In der Mitte drückt sich eine Rezeption in die Leere, die zum "Information Desk" umfunktioniert ist, rechts und links führen bewachte Rolltreppen hinauf in die erste Etage. Auf dreien dieser ausladenden Etagen plus Untergeschoß verteilen sich Dutzende große und kleine Säle und Räume, von breiten Korridoren gesäumt. In diesen sind Internet-Terminals installiert, jedes Jahr mehr, dennoch nie ausreichend. Hektisch werden letzte Folien und Ergebnisse, von daheim gebliebenen Kollegen gemailt, heruntergeladen und in den Powerpoint-Vortrag implantiert.
In den noch breiteren Fluren der Seitenflügel ist ferner eine Art Buchmesse untergebracht. Die großen Wissenschaftsverlage haben wie im Herbst in Frankfurt ihre Stände zusammengebaut und bieten ihre einschlägigen neuen Titel feil. Zettel zum Bestellen für die Konferenzteilnehmer liegen aus, mit zehn bis zwanzig Prozent "Discount" auf den Ladenpreis. Auch Organisationen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) oder die Raumfahrtorganisationen ESA und NASA sind vertreten, sie mit zahlreichen bunten Broschüren, Postern und Buttons. Hier lange ich zu, über meinem Schreibtisch ist noch fast ein halber Quadratmeter Platz.
Die großen und mittelgroßen der Säle tragen Namen griechischer Figuren wie Musen und Grazien. Die größten, teils viele Hundert Personen fassend, sind für die einleitenden Übersichtsvorträge vorgesehen. Diese enthalten meist keine sonderlich spannenden neuen Ergebnisse, sondern historische Überblicke über Teildisziplinen und werden von mehr (oder weniger) bekannten Professoren und Protagonisten der Umweltphysik gehalten, wie etwa von meinem Professor und AG-Leiter.
Die mittleren und kleinen Räume, mit 100 bis 200 Sitzen, sind für die spezielleren Vorträge im Rahmen der "Sessions" vorgesehen. Diese konzentrieren sich auf bestimmte Aspekte der Wolkenbildung, der Regenmessung, der Strahlungsmodellierung oder eines der zahllosen anderen Unter- und Teilgebiete. Die Planung der Sessions beginnt bereits Monate zuvor. Leute, die sich bereits einen Namen gemacht haben, werden angeschrieben, oder melden sich von sich aus, um "Convener" einer Session zu werden. Deren Titel nebst einer Kurzbeschreibung der geplanten Inhalte wandert ins Internet. Bis November des Vorjahres können Anmeldungen erfolgen. Einige werden als Vorträge angenommen, einige "nur" als Poster.
Je mehr Beiträge hereinkommen, desto mehr Poster gibt es, denn noch weiter verdichten läßt sich das eng gestaffelte Vortragsprogramm ohne Drogenunterstützung nicht. Jede dieser Sessions beginnt morgens gegen 9.00 oder auch 8.00, und dauert mit einer Mittagspause bis meist 18.00. Manche Sessions hören früher auf, manche aber nehmen auch noch den folgenden Tag in Anspruch.
Die Vorträge, "Talks", sind auf jeweils 12 Minuten angelegt, mit Einleitung, Skizzen, Graphiken, "Conclusions". Die letzten Handgriffe und Probevorträge erfolgen auf den Notebooks im Bus oder notfalls auch während der letzten Pause vorher. Nach der letzten "Folie" folgt pflichtgemäßes Klopfen auf eine greifbare harte Unterlage, dann eine dreiminütige "Discussion". Der Convener versucht mit wechselndem Erfolg das Überziehen einzudämmen. Nicht alle beachten Grundregeln betreffend lesbare Titel und Achsenbeschriftungen.
Die Abstimmung der Raumbelegungspläne ist eine heikle Sache. Wer sie jemals perfekt zuwege bringt, ist wohl reif für zumindest einen der zahlreichen Preislein, die das Jahr hindurch weitgehend unbemerkt ausgeschrieben und diese Woche noch unbemerkter vergeben werden. Sessions mit mehr als hundert Personen werden in Räume im Kellergeschoß gepfercht, die nur Buchstaben als Namen tragen, nicht einmal griechische, und durch Sperrholzwände lediglich optisch voneinander getrennt sind. Bis zu drei Vorträge lassen sich so gleichzeitig mitverfolgen. Das trainiert die ohnehin ausgeprägte "Multitaskingfähigkeit" der Umweltphysik-Doktoranden und unterstützt deren "Employability".
In den Kurzpausen stürzt sich alles auf die sich spärlich in den breiten Korridoren verlierenden Automaten, um ein winziges Plastiktäschen schalen Instantkaffees zu ergattern. Nur wer den letzten Vortrag vorzeitig verläßt, gehört zu den glücklich Wachen. Denn schon klingelt es, die Arbeiterscharen, an Langs "Metropolis" gemahnend, marschieren wieder in die Hallen, zwar ohne Spaten, aber auch ohne Kaffee. Die Tage sind recht anstrengend, das Anfertigen von Notizen kann nur dringend geraten werden. Die Mittagspause ist etwas länger, reicht aber gerade für das Verlassen des Zentrums, das flotte Aufsuchen eines nicht zu fernen Imbisses und die Rückkehr im Laufschritt. Nur wenige nehmen sich die Zeit und lassen drei, vier Vorträge sausen, um z.B. eine Kunstgalerie zu besuchen.
Den Lunch im Zentrum einzunehmend würde für solche Aktivitäten Zeit sparen, ist aber kaum empfehlenswert: Die Preise haben Deutsche-Bahn-Niveau. Zumindest ist das ein Schutz gegen das Zunehmen. Generell operiert die Verwaltung des Zentrums gewinnoptimiert, um es schonend auszudrücken. Die hohe Teilnahmegebühr habe ich schon erwähnt. Dafür gibt es zwar ein Telephonbuch, aber noch nicht einmal einen vernünftigen Kugelschreiber, von einer Konferenztasche wie bei kleineren Workshops ganz zu schweigen, und eben eine Kaffeeversorgung knapp an der Nachweisgrenze. Das Geschirr besteht durchweg aus Plastik, das im Laufe des Tages an verschiedenen Stellen zu Müllhaufen kondensiert -- etwas peinlich für eine Konferenz von Umweltphysikern.
Aber verdient die EGS 2003 diesen Namen? Die Dichte des Zeitplans hat den Bereich eines in blumigen Worten beschworenden produktiven Wissensaustausches zwischen Disziplinen und Richtungen längst verlassen. Ich habe an Tagungen und Workshops teilgenommen, auf welchen dieser funktioniert hat. Diese hier gehört nicht dazu. Der Talk-Akkordbetrieb macht es schon zur Herausforderung, den Inhalt aller Vorträge wirklich aufzufassen, Lems "Futurologischer Kongreß" nimmt reale Gestalt an. Doch nicht nur einige, sondern Batterien interessanter Sessions liegen parallel. Und damit fördert diese Veranstaltung nicht den Austausch, sie behindert ihn.
Der interdisziplinäre Charakter unserer Disziplin führt zu einer hohen Zahl an Spezialthemen. Das ist schön und richtig. Allerdings müßte entweder der Themenbereich einer einzelnen Konferenz entsprechend eingeengt, oder deren Dauer verlängert werden, um ihr Sinn zu verleihen. Das Problem trat schon in den letzten Jahren auf. Doch der durchaus geäußerte Verdruss zahlreicher Teilnehmenden wurde nicht einmal ignoriert. Wie egal wir den Verantwortlichen dieses Jahr zu sein scheinen, realisieren wir erst langsam.
Die "Kooperation" von EGS und AGU hat die Teilnehmerzahl auf 10000 anschwellen lassen. Diese Maximierung der Masse an Material und die Minimierung des Zeitraums hat etwas liebloses, gleichgültiges, -- brutales. Das Ziel ist Cash, und irgendwer macht hier eine Menge davon; Wissenschaft spielt die Nebenrolle des Feigenblattes. Eine Woche mehr hätte den Zeitplan entspannt, aber eben auch die Betreibergesellschaft mehr Miete gekostet. Die Kooperation mit der AGU dient vordergründig dem hehren Austausch, de facto dem Teilen der Miete: Ein gutes Geschäft, betriebswirtschaftlich sauber durchgerechnet.
Und wir weltenrettenden Physiker machen mit. "Publish or perish", die Lebensmaxime von John/Jane Doe NormalwissenschaftlerIn, bezieht sich auch auf Konferenzbeiträge. Also zahlen wir von unseren Drittmitteln die Konferenzgebühr, quetschen uns erst in den Bus, jetzt auf den Boden der Vortragsräume einer Veranstaltung, die eher einem Viehauftrieb ähnelt denn irgend etwas wissenschaftlichem. Was beschweren wir uns. Machen wir unseren Job. Die Apotheose haben wir ohnedies noch vor uns.
Die enorme Zahl an Beiträgen bedingt eine neue Rekordmenge an Postern. In den letzten Jahren paßten die "Poster Sessions", die jeweils gegen 18.00 nach den Vortragssessions beginnen und inhaltlich jeweils diesen zugeordnet sind, noch in besagte Korridore. Dieses Jahr nicht. Neben der Acropolis befindet sich ein Platz, auf dem sich sonst Touristen in der Sonne räkeln. Dieses Jahr steht dort ein Bierzelt, ebenfalls in Gigantomanie-Ausführung. Von einem Seiteneingang aus führt ein Metallsteg, mit einer Plane überdacht, über die Straße hinüber in das Zelt. Die Masse der Weltenretter schiebt sich im Kriechtempo hinüber und zurück. Wieder drängen Metropolis-Szenen ins Gedächtnis. Es fehlen nur noch Wachen mit Elektrostöcken, die verhindern, dass jemand das Gatter verläßt.
A propos: Sicherheitsvorrichtungen und Wachen sucht das Auge in der Tat vergebens. Direkt beim Zelt trennt lediglich ein dürres unbewachtes Metallgatter den Komplex von der Außenwelt. Ein jeder könnte darübersteigen, in das Zelt eindringen, und, sagen wir, den Inhalt eines AK 47-Magazins bei uns loswerden. Es macht aber keiner, offenbar sind wir "mostly harmless"; oder die Beiträge der US-Kollegen wurden alle "als Vorträge angenommen".
Die Poster sind Papierausdrucke im Format A0. Sie sind aufgebaut wie eine Publikation in einem "Journal", mit einem "Abstract", Beschreibungen des Computermodells oder des Meßgeräts, Graphiken mit bunten Ergebnis-"Plots", "Conclusions" und Literaturverweisen, unterteilt durch Linien, Spalten, Kästen. Die Poster haben in den letzten beiden Tagen vor dem Aufbruch nach Nizza die entsprechenden Drucker in den Rechenzentren der Universitäten und Institute auf Dauertrab gehalten. So manches Werk ist zweimal "abgeschickt" worden, weil etwa eine Illustration soviel Druckerpeicher okkupiert hat, dass sie tadellos zur Geltung gekommen ist, Text und Datenkurven aber im elektronischen Nirvana verschwunden sind. Die Endversionen haben die Reise in besagten Posterrollen aus Plastik angetreten.
Die heute mit ihren Postern "dran" sind, tröpfeln am Morgen des Tages vor den Talks in die Halle und pinnen das Poster an eine der bereitgestellten Wände. Es gibt viele Wände. Reihe um Reihe, mit Buchstaben-Nummer-Kombinationen gekennzeichnet, füllen sie die Halle, die problemlos einem Basketballfeld böte, und breiten Rängen für die Zuschauer. Die hätten wahrscheinlich mehr Platz als wir. Schulter an Schulter schieben wir uns aneinander vorbei. Wie bei den Talks das Notizenkritzeln ist hier das Mitnehmen der "Handouts" zu empfehlen, A4-Zettel mit einer Miniaturversion des Posters oder einer Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte. Doch das Besuchen jeder Arbeit ist schon wegen des Gedränges nicht möglich; eine zweite Runde am nächsten Tag ebensowenig. Jedes Poster darf nur einen Tag hängenbleiben, der folgende Tag ist für die nächste Hallenfüllung vorgesehen, so drückend ist die Masse der Erkenntnisse. So ist jedes Werk nach der "Poster Session" wieder abzuräumen. Wer es nicht tut, kann sein Schmuckstück im Foyerbereich aus einem überquellenden Container bergen. Auch das aber sparen sich viele, denn der Zweck ist ja erfüllt und auch dieser Job erledigt.
Das Gesamtkunstwerk aus Talk-Sperrfeuer und Poster-Wellen bietet dennoch einen recht guten Überblick über den Stand unserer Arbeit. Wir haben uns ein anspruchvolles Gebiet ausgesucht. Die Erde mit ihren Vegetationstypen, die Ozeane mit Schichten und Strömungen, die Eiskappen, die Schichten und Bestandteile der Atmosphäre, die Wolken und Nebel, die Magnetosphäre, die Sonnenstrahlung der verschiedenen Spektralbereiche und ihre vielfältigen, untereinander verflochtenen und verquickten Wechselwirkungen und Prozesse bilden ein System von einer kafkaesken Komplexität, die in anderen Disziplinen allzugern unterschätzt wird. Mit zahlreichen Messungen, verfeinerten Verfahren und Methoden aus Physik und benachbarten Disziplinen, und schließlich mit immer komplizierteren Computermodellen und korrespondierender Rechenkraft rücken wir dem System zu Leibe, versuchen es zu verstehen und Voraussagen zu treffen. Es sind Voraussagen, welche Relevanz besitzen -- geht es um die Ozonschicht oder lediglich um den Sommersmog. Wir machen Fortschritte. Die Ozonchemie ist hinreichend verstanden. Die Wettermodelle werden besser, besser z.B. als so manche Privateinschätzung eines menschlichen Kollegen auf der "FS Polarstern" voriges Jahr. Beim Verständnis der Wirkung von Aerosolen (Tröpchen in z.B. Nebeln) und Wolken auf den Strahlungshaushalt tasten wir uns unaufhaltsam voran. Die Größe der "Grid Cells", der kleinsten Einheiten einer virtuellen Modellumwelt, sinkt stetig. Nicht Aufgeben heißt die Devise. Ich bin der Ansicht, dass wir etwas Richtiges und Sinnvolles tun in diesem Fach.
Aber: Es ist noch ein weiter Weg zu gehen. Und noch sind unsere Prognosen mit großen Unsicherheiten behaftet, die gern gegen uns verwandt werden -- in der Politik wie bei den etablierten Disziplinen der Physik. Nicht zuletzt ist der Erfolgsdruck hoch, macht es sich in einem Betrag nicht gut, zu schreiben, dass man etwas noch nicht weiß; zwar Daten hat, aber bestimmte Aussagen noch nicht treffen kann, nächstes Jahr wahrscheinlich, aber noch nicht diese Woche. Also muss man das Unbekannte umgehen, in etwas Bekanntes verwandeln.
Das Zauberwort heißt "Assumptions", Annahmen. Sie werden in ein Computermodell zusammen mit den vorhandenen Meßdaten gesteckt, um Ergebnisse zu erhalten, Aussagen, Voraussagen. Die Annahmen sind teilweise durchaus berechtigt, teilweise spekulativ, weil die Daten nicht ausreichen; aber sie sind als solche markiert und, mehr oder weniger, begründet. Schwarze Schafe gibt es in allen Fächern. Und auch in diesem Stadium ergeben sich wichtige Hinweise auf die Empfindlichkeit eines bestimmten Prozesses auf Änderungen etwa der Temperatur oder der Luftfeuchtigkeit. Und doch vermitteln manche Beiträge den Eindruck, sie sollten lieber erst nächstes Jahr eingebracht werden. Indes, wer ohne Sünde ist, der greife zum ersten Farbbeutel.
Die Poster Session geht bis etwa 20.00. Aus Plastikkanistern fließt Wein in Plastikbecher, nicht sehr guter und nicht sehr lange, der Veranstalter will ja wieder nicht verarmen. Nachdem sich die Massen durch die Reihen der Posterwände geschoben und danach wieder über den Steg zurück in die Acropolis und zu deren Ausgang gewälzt haben, löst sie sich in einzelne Grüppchen auf, die in die Altstadt streben, sich dort zirkulierend noch mehrfach begegnen und schließlich in den zahllosen Touristenfallen versickern. Hier findet in den folgenden Stunden in der Tat ein Austausch statt. Leute, die sonst nur per Email kommunizieren, haben sich heute das erste Mal getroffen und essen jetzt gemeinsam, sprechen über Pläne und Zusammenarbeit. Das macht endlich einmal Sinn.
Nach dem Mahl schlendern wir auf den mit kleinen Steinen belegten Strand. Etwas Ruhe kehrt ein. Fern starten als kleine Positionslichter getarnte Flugzeuge, ziehen ihre Schleifen, entschwinden in der Wolkendecke. Die Brandung treibt weitere Steine und Muschelsplitter vor die Schuhe. Manchmal schafft es eine Welle weiter hinauf als die anderen, und so manche Hose wird kurz vor Tagesende etwas abgekühlt, während der Besitzer gerade ins Gespräch vertieft ist. Die sanft geschwungene Strandpromenade lädt zu einem Abendspaziergang ein. Auf dem Heimweg ins Hotel wandert wohl noch eine Flasche Wein in die Tasche und wird aus verschiedensten Gefäßen auf dem Balkon über den Dächern von Nizza miteinander geleert. Auch mein in Sibirien mit Birkenrinde umwickelter Stahlbecher kommt wieder zu Ehren. Rechtzeitig geht es wieder in die Betten, denn am nächsten Morgen beginnt wieder die Schicht in Acrometropolis.
Wir alle versuchen, die Sessions näherungsweise sytematisch auszuwählen. Pflichtveranstaltungen sind jene, die unser Thema berühren. Aber z.B. Modellierer sollten spätestens an den letzten ein, zwei Tagen auch in solche gehen, die neue Meßverfahren behandeln. Ich selbst muss natürlich auch einmal Talks mit Titeln wie "New Space Instrumentation" oder "New Results of the Mars Mission" besuchen, schließlich habe ich einen Spitznamen zu verteidigen. Vereinzelte Ausflügler nehmen sich einen Nachmittag frei, um doch noch eine Kunstausstellung "mitzunehmen".
Die Stapel der Notizzettel mehren sich. Bloß nichts durcheinandergeraten lassen, ist die Devise, sonst ist zuhause kein "Durchsteigen" mehr. Das wäre schade, denn oft erst durch systematisches Zusammenfassen ergibt sich ein verwertbares Bild dessen, was eine Woche lang durch den Nürnberger Trichter in das Kurzzeitgedächtnis gepreßt wurde. Auch die Gebühr wurde letztlich von Steuergeldern bezahlt. Am letzten Abend packen wir die Sachen, um am Samstagmorgen rechtzeitig loszukommen und nicht am falschen Ort in den Berufsverkehr zu geraten.
Früh starten wir mit Bus und PKW, sofern nicht ein Geldautomat eine unserer EC-Karten gefrühstückt hat, die erst durch einen den Tag gemächlicher angehenden Filialleiter losgeeist werden kann. Rasch liegen Nizzas Palmen hinter uns. Kurze Pausen, Rast, und langer Stau in der Gegenrichtung laufen im Rückwärtsgang ab. Achtern suchen sich Posterrolle und Taschen leise rumpelnd ihre Plätze. Sie enthalten wieder unsere Poster, von denen wir einige in unserem Institut an Korridorwände hängen werden, bis die Tinte so verblaßt ist, dass wir theoretisch die nächste Version darauf drucken könnten.
Unsere Notizen und eingesammelte Visitenkarten sind in die Notebooktaschen gestopft. Mein Vortrag ist recht gut über die Leinwand gegangen, ich habe nur wieder zu schnell geredet. Mein Modell, ein Simulationsprogramm, kann Aussagen machen über Messungen mit dem spektroskopischen Verfahren meiner AG. Es beherrscht sowohl Messungen von Geräten auf dem Boden, als auch von luft- und raumgestützten Plattformen und erlaubt Untersuchungen der Meßempfindlichkeit; unter gewissen Annahmen.