Bericht über meinen Wahlmapftrip nach Philadelphia, 1.-7.11.2008
Vielleicht passt das hier nicht ganz in die Rubrik "Reisen mit der Wissenschaft", aber immerhin lässt sich wenig gegen den Teil mit der Reise sagen. Wer mehr zu Wissenschaft lesen will, sei etwa auf den Bericht über eine Iranreise des Autors verwiesen. -- Red.
Irgendwie hatte ich schon vor Monaten gewusst, dass ich diese Sache durchziehen würde. Ich hatte die letzten dreieinhalb Jahre ein wenig pausiert, was Reisen leicht abseits des Mainstreams angeht, hauptsächlich berufsbedingt. Knappe zwei davon hatte ich als Lektor für meinen Arbeitgeber, einen internationalen Verlag, in Hoboken bei New York gelebt und gearbeitet, und war im August mit einer Beförderung im Umzugsgepäck wieder nach Berlin zurückgekehrt.
In meiner New York-Zeit hatte ich aber etwas wieder aufgenommen, womit ich ebenfalls pausiert hatte – politische Tätigkeit. Sie hatte ich zunehmend vermisst: das Gefühl, zu etwas Wichtigem beizutragen, statt nur das eigene kleine Leben auf Reihe zu kriegen, die interessanten Leute, die Veranstaltungen mit Selbstbeteiligung. Und so hatte ich, ebenso wie ich während meines London-Jahres eine Labour-Hochschulgruppe gesucht und gefunden hatte, nach Gruppen der Demokraten gegoogelt und „Democracy for New York City” (DFNYC) lokalisiert. Dabei handelt es sich um eine sogenannte Graswurzelgruppe, die im Raum New York eine wichtige Rolle im etwas weniger parteienorientierten politischen Leben links von der Mitte spielt. Sie befasst sich mit dem ganzen Spektrum der Politik, von Wohnungs- und Verkehrsangelegenheiten in Manhattan bis eben hinauf zu nationaler Politik.
Die Jahre 2007 und 2008 waren, und werden auf lange Zeit hinaus sein, die interessantesten und spannendsten, um die in Europa oft als unterhaltsam empfundene Politiklandschaft des großen Bruders USA von innen heraus mitzuerleben. Der ungewöhnlich lange, öffentliche Wahlkampf zwischen zwei historisch neuartigen KandidatInnen innerhalb der Demokraten (einer Frau und eines Schwarzen) hatte zunehmend auf den monatlichen Treffen von DFNYC an Bedeutung gewonnen. Das TIME Magazine hatte monatelang vom Wahlkampf gelebt und in originellen Artikeln berichtet.
In Facebook – einer Networking-Website, in der ich eine Gruppe für DFNYC aufgebaut hatte – waren immer mehr Obama-Gruppen aufgetaucht (ich hatte bloß „Skinny Guys for Obama”vermisst, sowie „Folks with Funny Accents for Obama”), welche die historisch neuartige Technologie-Affinität seiner Wahlkampf-Organisation ebenso widerspiegelten wie den Anklang bei Jüngeren, z.B. Studierenden.
Die wachsende Freiwilligenschar kombiniert mit dem hohen Organisationsgrad und der Systematik der Wahlkampfmaschinerie hatten international für Aufsehen gesorgt. Zudem sagte mir und vielen zu, dass er als „Community Organizer”, eine Art Sozialarbeiter, in einer wirtschaftlich schwachen Gegend Erfahrungen gesammelt hatte, wie es sich anfühlt, unten zu sein – Erfahrungen, welche hinter den Holzvertäfelungen von G8-Hauptstädten öfter einmal zu fehlen scheinen.
Seine Leitworte „Hoffnung” und „Change”, also Hoffnung auf einen Politikwechsel, und sein Leitsatz „Yes We Can” waren insofern geschickt gewählt, als er vielen, die sich frustriert von der Politik abgewandt hatten, suggerierte, eben doch noch etwas bewegen zu können, und zur Unterstützung des Wahlkampfs motivierte. All dies verhalf Barack Obama zu ersten, dann immer weiteren Siegen bei den öffentlichen Vorwahlen gegen eine zwar ebenfalls hervorragende, aber zunehmend verbissen, ja halsstarrig wirkende Hillary Clinton, und schließlich Anfang Juni, als diese das Handtuch warf, zur Nominierung.
Besagter hoher Organisationsgrad, inklusive Hierarchie, ist bei der Linken häufig nur bedingt anzutreffen. Die wichtige Teilaufgabe in jedem Wahlkampf weltweit, die eigenen potentiellen AnhängerInnen (und Unentschlossene) zu mobilisieren und letzlich an die Wahlurnen zu expedieren, war 2000 und 2004 nur unzureichend gelöst worden und hatten zu den sattsam bekannten, umstrittenen und äußerst knappen Ergebnissen zugunsten der Republikaner beigetragen. Die Tatsache, dass auch nationale Wahlen jeweils durch variierende bundesstaatliche Gesetze geregelt sind, und diverse Typen von Wahlmaschinen diverse Fehlerquellen und potentiell gar Wahlfälschungsmöglichkeiten in sich bergen, war auch nicht hilfreich gewesen.
Ein merkwürdiges Gefühl hatte das Gezerre um Neuzählung, Beeinflussung von Gerichten, die darüber befinden sollten, und Vorwürfe gar der Wahlfälschung in Europa hinterlassen, war man doch derlei Meldungen eher aus so genannten Entwicklungsländern und Staaten mit Militärregierungen gewohnt. In den resultierenden letzten acht Jahren hatte die Bush-Administration das Land außenpolitisch isoliert, innenpolitisch Freiheiten beschnitten und gleichzeitig durch dogmatisches Laissez-Faire der oberen Zehntausend die Wirtschaft in eine Krise hatte driften lassen. Das hatte bei vielen politisch interessierten AmerikanerInnen tiefe emotionale Spuren hinterlassen, welche sich teils gar in Scham bei Auslandsreisen geäussert hatte.
Der zunehmende, wenn auch etwas diffuse Wunsch nach einem Wechsel hatte mich ein wenig an die Stimmung nach sechzehn Jahren Helmut Kohl im Wahlkampf 1998 erinnert, welcher erdrutschartig Gerhard Schröder ins Kanzleramt gebracht hatte. Hier aber war es womöglich emotionaler zugegangen, da zahlreiche AmerikanerInnen elementare Werte ihrer Demokratie und Zivilgesellschaft in Gefahr gesehen hatten. Und so hatte man denn im Obama-Camp mit allen Mitteln vermeiden wollen, eine weitere Wahl an mangelhafte Organisation zu verlieren, und hatte konsequent Technologie eingesetzt, um vom Anwerben Freiwilliger bis zum Druck auf den Wahlmaschinenknopf maximal mögliche Effizienz zu erreichen. Nichts sollte diesmal dem Zufall überlassen bleiben.
Als Dach-Name dieses zentralen Bereichs der Obama-Kampagne hatten seine PR-Strategen ersonnen: „Get Out The Vote” (GOTV). Bereits im Frühling hatte ich mich an einer Wählerregistrierungskampagne mit Auftaktveranstaltung in einer Kirche in Harlem beteiligt, und Passanten in Chelsea auf die Notwendigkeit einer Registrierung an ihrem derzeitigen Wohnort aufmerksam gemacht.
Inzwischen wieder in Berlin, hatte ich den Wahlkampf, der sich inzwischen auf Obama/Biden versus McCain/Palin zugespitzt hatte, aus der Entfernung verfolgt – mittels Fernsehnachrichten sowie des lebhaften Emailverkehrs auf dem DFNYC-Verteiler, und das Gefühl bekommen, etwas wirklich Wichtiges nun an mir vorbeirauschen zu lassen.
Wie man gerade während der letzten Monate an Hauptnachrichten über den Kampf der Politik gegen die Amok laufende Finanzbranche gesehen hatte, und evtl. das ganze folgende Jahr hindurch an gravierenden Folgen sehen wird, beeinflusst die Politik in den USA den gesamten globalisierten Planeten – wirtschaftlich, außenpolitisch und ökologisch. Obamas politisches Programm unterstütze ich von der Richtung her.
McCain & Co. hingegen hatten eine kaum veränderte Fortsetzung der Bush-Jahre verheißen – inklusive gar weiterer Kriege in Gegenden, aus denen auf US-Technik basierende Raketen wohl nicht die USA, aber Israel und Europa treffen können. Und dennoch schwankten die Umfragen wie vor vier Jahren um knappe Werte herum. So hatte der Entschluss gereift, nach Einarbeitung in meine neue Stellung während hochintensiver Arbeitswochen im August, September und Oktober, vom 1. bis 7. November eine Woche Urlaub zu nehmen und in den USA die letzten vier Tage lang mitzuhelfen, den Job am 4. November zu Ende zu bringen. Danach wollte ich in Hoboken und NYC ein paar Freunde und Arbeitskollegen treffen.
Ursprünglich hatte ich naheliegenderweise geplant, in New York zu wahlkämpfen, und mich nach Übernachtungsmöglichkeiten umgehört. Rasch stellte sich aber heraus, dass es wesentlich effektiver war, sich in Pennsylvania zu engagieren. Der Staat New York ist zwar bevölkerungsreich und stellt daher viele Wahlmänner im „Electoral College”, ist aber traditionell und zuverlässig demokratisch.
Und da in den USA, ein wenig wie in Großbritannien, das Mehrheitswahlrecht gilt, also alle Wahlmänner innerhalb eines Bundesstaates dem Sieger zugeschlagen werden, egal, ob dieser 50.1 oder 99.9% der Stimmen erhält, machten mehr Wahlkampfressourcen dort voraussehbar keinen Unterschied. Pennsylvania hingegen ist ein sogenannter „Swing State”, ein Staat mit wechselnden, eher knappen Ergebnissen; und die Tatsache dass er gemessen an der Bevölkerung der sechstgrößte Staat ist und entsprechend viele Wahlmänner stellt, macht ihn zu einem der wichtigsten „Battleground States”.
Womit wir bei der fast militärisch anmutenden Terminologie angelangt wären, welche auf unserer Seite des Atlantiks und speziell in Deutschland mit leichtem Argwohn betrachtet würde, in den USA aber unbekümmert öffentlich verwendet wird. Und ebenso wie ein militärischer Generalstab Divisionen von einer weniger umkämpften in eine kritische Region verschiebt, so rief auch die Obama Campaign ihre AktivistInnen auf, aus sicheren Staaten wie eben New York für ein paar Tage, Wochenenden oder eine Woche in benachbarte Battleground States zu fahren und den dortigen Obama-Freiwilligen zur Seite zu stehen.
Sehr selbstständig und eher dezentral organisierten sich vor Ort, wiederum via Internet und Email, Gruppen und trafen sich an Bus- und Zugbahnhöfen, um in diversen Landkreisen von Pennsylvania aktiv zu werden – ersten Daten zufolge insgesamt mindestens siebenhundert New Yorker. Analog verbrachte eine Facebook-Freundin, die ich bei oben erwähnter Registrierungskampagne kennen gelernt hatte und die inzwischen in Kalfornien studiert, einen etwas anderen Urlaub in Colorado.
Da diese Überlegungen nun ohne weiteres nachvollziehbar waren und ich noch nie in Pennslvania gewesen war, wo nebenbei eine weitere Brieffreundin von mir wohnt, disponierte ich also um – auf nach Pennsyvania! Die Website der Obama-Kampagne bot die Möglichkeit, die geplanten Zeiträume einzutragen und auch Unterbringung zu beantragen. Letztere galt allerdings angesichts der enormen Zahl an Freiwilligen als knapp bemessen. Zu Beginn sollte ich im „Lehigh”-Landkreis („County”) eingesetzt werden; da aber eine bezahlbare Flugverbindung mich erst am Samstagnachmittag auf dem Flughafen Philadelphia abgesetzt hätte und ich von der Stadt aus noch zeitaufwändig einen Bus hätte nehmen müssen, erwies sich das als uneffizient, ich hätte erst Sonntag anfangen können. Also wurde mir ein Unterbringungskontakt in Philadelphia vermittelt, Bill, ein Glaser und Mitglied einer der Obama unterstützenden Gewerkschaften, der mit seiner Frau Denise ein kleines Haus mit Gästezimmer besaß.
Am 1. November 2008 krieche ich also gegen halb fünf aus dem Schlafsack (ich stecke noch in dem logistisch nicht volltrivialen Umzugsprozess von Hoboken nach Berlin) und und fahre zum Flughafen, um über Heathrow nach Philadelphia zu fliegen. In Heathrow irre ich mich im Abflugflugsteig und finde zusammen mit einem Regelungstechniker aus Stuttgart, dem dasselbe passiert ist, heraus, dass der Shuttlebus aus irgendwelchen Gründen nur in eine Richtung verkehrt. Und so tauschen wir uns über die US-Wahlen aus, während wir durch einen langen Betonkorridor zurücktigern, und während ich danach bei einem Kaffee meinen Flug-Flüssigkeiten-Plastikbeutel von etwas reinige, das sich mittlerweile dort drinnen verselbständigt hat.
Mein Weiterflug verläuft ohne Probleme, und von ein paar Turbulenzen gewiegt kann ich planungsgemäß sogar etwas Schlaf nachholen. Bei der Ankunft holen mich Denise und Bill ab und bringen mich ins Fishtown-Viertel, eine ehemalige Arbeitergegend, die früher von der inzwischen teils niedergegangenen Fischindustrie gelebt hatte, und jetzt eine bunt gemischte Bevölkerung aufweist, in deren Zimmern und Vorgärten noch der Halloween-Schmuck prangt. Dort steht ihr hübsches kleines Haus, komplett mit Obama-Schild im Fenster und einem Metallfisch an der Wand.
Auf meine Bitte hin bringen sie mich direkt zum lokalen Wahlkampfbüro, aufgehalten nur durch ein Paar, die mitten auf der Straße ein Auto voll Partymaterial ausladen („They are not going to unload all of this? – they are....”) Nun, geht alles nach Plan, werden wir bald an einer deutlich größeren Feierlichkeit teilnehmen. Aber nach den semitraumatischen Ereignissen der letzten beiden Wahlen gibt man sich Mühe, jeden umfragemotivierten Optimismus zu dämpfen, denn genau dieser könnte verleiten, am regnerischen Wahltag zuhause zu bleiben. Und so eröffnet die Kampagne ein Sperrfeuer aus Emails und Facebook-Nachrichten auf die ihrigen – geben die Parole aus, wieder und wieder, nicht nachzulassen, bis ganz zuletzt Vollgas zu geben, wählen zu gehen, Nachbarn, Verwandte und Freunde zu kontaktieren und mitzunehmen.
Das Fishtown Office, das für die Aktivitäten in einer handvoll angrenzenden Wahlbezirke, „Wards”, zuständig ist, befindet sich in einem ehemaligen, jetzt geräumten Supermarkt der „Global Thrift”-Kette. Einigen Straßenzügen dieser Gegend sind die wirtschaftlichen Probleme, die nicht erst seit der Finanzkrise den Mittelstand die Wohlstandsleiter hinunterdrücken, durchaus anzusehen. Hinter Fenstern, welche die ganze Kreativität der Obama-Plakatkunst widerspiegeln, ist nun Platz genug für Aktivismus, um die Zustände zu ändern.
Am Eingang befindet sich sogar ein Empfangsschalter, wo eine Aktivistin Nachrichten entgegennimmt sowie Obama-Devotionalien wie T-Shirts und Kappen verkauft, ohne welche in den US scheinbar keine medienwirksame Angelegenheit auskommt. Rechts dahinter markiert ein Transparent eine Ecke als Ort des „Canvassing Training”, links vorne sind Flug- und Faltblätter auf einem Tisch gestapelt, bereits abgepackt und verteilungsbereit, daneben steht ein Tisch für rudimentäre Nahrungsversorgung. Hinten links verlieren sich ein paar Holztische und Klappstühle im Neonlicht – dort residiert das „Phonebanking”. An der hinteren Wand führt eine Tür in einen Lagerraum, und weiter auf einen Parkplatz. Eine Reihe von Zetteln mit einem Pfeil darauf leitet durch eine Seitentür hinter dem Empfang Treppen hinauf zu einem WC; auf diesem Stock liegen weitere Räume, die früher der Supermarktverwaltung gedient haben dürften, nun aber von der Leitung dieses Büros genutzt werden.
Eine durchaus beeindruckende Infrastruktur, die auch erheblichen Publikumsverkehr sieht – die Menge und das Engagement der Freiwilligen ist historisch neuartig – eine Million sollen es US-weit sein, meist jüngeren Alters, dennoch konsequent aus allen Alterschichten und beruflichen wie sozialen, ethnischen und religiösen Hintergründen. Die Gegenseite verfügt nur über einen winzigen Bruchteil (ein Gerücht spricht von gerade einmal 2000 Aktivisten), die vermutlich mit Spendenmitteln von Staat zu Staat gebracht werden, um irgendwie das ganze Land abzudecken. Telefonanrufe werden durch Maschinen erledigt, in unserem Lager amüsiert man sich über diese „Robocalls”.
Ich beschließe, gleich loszulegen, und vereinbare mit Denise und Frank, die mir ihren Schlüssel geben, dass sie meine Tasche im Haus abstellen, ich käme am späteren Abend leise herein. Da es bereits früher Abend ist, und Aktionen an Haustüren eher tagsüber erfolgen, werde ich direkt zu Frank geleitet, den Leiter des Phonebanking. Ein ruhiger Mann in den Fünfzigern, ebenfalls aus New York kommend, ist bereits seit Wochen hier, und bringt den fachlichen Hintergrund mit um genau zu wissen, was er tut. Man habe, so erklärt er mir, die Telefonanrufe, die Republikaner und Unentschiedene (z.B. jene, die als „Independent”, also unabhängige Wähler registriert sind), umstimmen sollen, bereits vor einem Monat hinter sich gebracht. Nun konzentriere man sich auf diejenigen WählerInnen, die vermutlich auf unserer Seite stehen, um sicher zu stellen, dass sie erstens korrekt, mit ihrer aktuellen Adresse, registriert sind, sich zweitens ihres Wahllokals und des Wahltermins bewusst sind, und drittens sich denn auch wirklich, wirklich, wirklich am Tag X zwecks Stimmabgabe dorthin zu begeben planen.
Und so wurden die dem Wählerverzeichnis entnommenen Listen entprechend gefiltert und elektronisch an die Phonebanking-Einheiten der diversen Wahlkampfbüros verteilt, komplett mit Formatierung für die anstehende Arbeit. Für die Bandbreite möglicher Ergebnisse – vom Fall, dass niemand abhebt über das Anvertrauen des Wahlaufrufs an einen Anrufbeantworter bis zu der Bestätigung, man werde Obama wählen oder auch nicht – stehen Kästchen zum Ankreuzen sowie Raum für kurze Kommentare bereit.
Gleich nach der Begrüßung und Vorstellung ist der Wahltermin zu nennen und durch eine diplomatische Frage zu klären, wen die betreffende Person zu „unterstützen” plant. Danach ist zu verifizieren, ob Adresse und Ort des Wahllokals aktuell und korrekt sind – noch wäre Zeit für eine Ummeldung. Danach wird gefragt, ob man evtl. eine Fahrgelegenheit zum Wahllokal brauche; ob man Verwandte aus dem Haushalt sowie Nachbarn gleich zu dem Ausflug mitnehmen könne; schließlich, ob man sich vorstellen könnte, für ein paar Stunden bis zum Wahltag selbst mitzumachen. Falls dies der Fall sei, ist möglichst schon ein Termin und Zeitraum zu vereinbaren. Die Fälle, die eine Weiterverfolgung erfordern (z.B. die Meldung eines Freiwilligen) sind mit Textmarker für die Auswertung zu markieren.
Gewisse ortsspezifische Veränderungen hat Frank schon am zentral erstellten Skript vorgenommen – etwa sollen wir statt „Pennsylvania” „Fishtown” sagen, das klingt lokaler, und sei sich jemand über sein Wahllokal im Unklaren, solle auf eine eigens geschaffene Webpage verwiesen werden. Und so lege ich denn los, etwa eine bis zwei Minuten vergehen pro Anruf. Die Resonanz ist überwiegend positiv, angesichts der Vorauswahl nicht weiter verwunderlich, auch wenn manche äußern, sie seien jetzt schon sechs, sieben Male angerufen worden während nur weniger Tage.
Ich melde dies an Frank – liegt vielleicht ein Doppelungsfehler bei der Listenerstellung vor? Frank erwidert, dies sei durchaus so gedacht; ob nicht manche durch wiederholte Anrufe genervt werden und deshalb dem Wahllokal fernbleiben, frage ich. Frank verneint dies, soziologische Studien zeigen eindeutig, dass wiederholte Kontakte eher im Gedächtnis haften bleiben und Einfluss ausüben als nur einmalige.
Ganz glücklich bin ich mit Sache nicht, und ich frage mich auch, wie sich europäische Datenschützer zur hierzulande offenbar üblichen Benutzung der Wählerverzeichnisse stellen würden. Aber ich bin hierhergeflogen, um beim Wahlkampf für einen Kandidaten mitzuhelfen, dessen politische Richtung ich unterstütze, nicht um die Taktik einer Kampagne zu debattieren, die sich bereits als hocheffektiv gezeigt hatte, besagten Kandidaten aus einer Underdog-Position heraus überhaupt auf den Stimmzettel zu bringen. Also mache ich weiter – obschon das Gefühl, hier nicht doch ein wenig des Guten zuviel zu tun, weiter sachte nagen wird.
Pünktlich um neun signalisiert Frank den etwa zehn versammelten Phonebankern, Schicht zu machen. Jeder beendet noch den laufenden Anruf, dann zählt man die gemachten Anrufe und die Zahl der tatsächlichen Gespräche für Franks Bericht an die Zentrale, trägt sich auf einer Liste aus und geht auseinander. Schräg gegenüber ist ein „Diner”, eines der nicht zuletzt aus „Pulp Fiction” berühmten Lokale, die Frühstück und warme Mahlzeiten sowie Kaffee anbieten. Hier genehmige ich mir eine grosse Pizza (seit der Flugzeitmahlzeit habe ich nichts mehr gegessen) und gehe nach Haus, wo ich leise auspacke, dusche, kurz Emails checke und mich hinlege.
Am Sonntagmorgen wache ich mit Blick auf Philadelphia auf, wasche mich leise, und laufe kurz nach neun beim Büro auf – noch alles zu, niemand da. Also wieder über die Straße, ins Diner, frühstücken, ein paar dienstliche Emails auf meinem neuen Spielzeug checken. Ein Blick auf die Uhr erklärt die Ruhe – heute Nacht wurde auch in den USA auf Winterzeit umgestellt, es ist erst kurz nach acht. Damit sind auch die gewohnten sechs Stunden Zeitunterschied zwischen EST und MEZ wiederhergestellt. Nun ja, jetlagbedingt hätte ich ohnedies nicht mehr schlafen können. Als ich kurz vor zehn wieder hinübergehe, ist inzwischen offen, und die Büroleitung bereitet die Listen und Materialien fur den heutigen Tag vor. Das dauert offenbar noch etwas, und so werden ich und ein paar andere (aus NY zugereiste) erst einmal einen Kaffee trinken geschickt, was wir in einem nahegelegenen, alternativ wirkenden, gemütlichen Cafe tun.
Als wir zurückkommen, ist alles bereit, das Briefing beginnt. Es geht in die Straßen von Fishtown, zum Aufhängen von Türanhöngern mit, was wohl, dem Wahlaufruf sowie dem Wahlort. Wieder enthalten die Listen nur potentielle Obama-WählerInnen. Es ist Aufmerksamkeit geboten – es werden und genau abgezählte Packen eines bestimmten Aufhängers gegeben, und wie beim Telefonieren sollen wir sehr sorgfältig die Adressen abgleichen.
Manchmal wählt eine Straßenseite in einem Lokal, die andere hingegen in einem anderen. Aufhängen der steifen Papierstreifen an einer falschen Tür könnte den dort wohnenden zu einem falschen Lokal schicken. Erstens könnte der Betreffende dann die Lust verlieren und statt zum richtigen Ort ohne Stimmabgabe nach Hause gehen. Vor allem stellt es aber auch ein Vergehen nach Bundesrecht dar, jemanden bezüglich der Stimmabgabe in die Irre zu führen, und könnte juristische Folgen haben. Auch die Briefkästen sind gesetzlich tabu – falls ein Türknauf nicht verfügbar ist, ist der Streifen z.B. unter Tür hindurch zu schieben oder sonstwie geeignet zu befestigen.
In Zweierteams ziehen wir los, und arbeiten jeweils ein halbes Dutzend Straßenzüge ab. Es braucht auch jeweils zwei, da ein einzelner zu wenig Extremitäten hat, um die Listen, die Google-Map-Ausdrucke, den Kugelschreiber zum Abhaken und Kommentieren, sowie die Aufhänger selbst zu handhaben.
Wir agieren sichtlich auf freundlichem Terrain, oft prangen Obama-Schilder hinter den Fenstern, oder sind mit zwei dünnen Stäben in die für US-Wohnbezirke so typischen Grasflächen vor dem Haus gepflanzt. Allerdings, die Plakatwände, die in Dreiecken um Laternenpfähle gebaut oder an ihnen befestigt sind, und welche eine Hauptbeschäftigung in deutschen Wahlkämpfen darstellen, fehlen hier ganz. Wieder ist die Resonanz, so man jemanden zufällig draußen antrifft, eher positiv, nur einer weigert sich strikt zu wählen, weil ohnehin alles keinen Unterschied mache. Wir diskutieren ein paar Sätze gegen die Wand, dann veranschieden wir uns und machen weiter. Keine Zeit ist zu verlieren.
Irgendwie ist dies eine interessante Art der Stadtbesichtigung. Nach der Rückkehr erstatten wir Rapport, unterhalten uns ein wenig in Wartestellung, ziehen dann mit der nächsten Packung los. Mehrere Adressen liegen in einem großen Mietshaus, wir hinterlassen ein paar Exemplare beim Empfang. Am Nachmittag machen wir Mittagspause, dann nehmen wir uns wieder der Telefonlisten an, wieder bis neun Uhr. Wenn schon, denn schon. Nach und nach lerne ich die LeiterInnen des Büros kennen – die „Field Organizerin”, Vorgesetzte unter anderem von Frank, dem „Deputy Field Organizer”, den „Staging Location Manager” Jack, den „Field Coordinator” Thomas, alle mit Visitenkarten und Obama-Emailadresse.
Als ich abends im Begriff bin zu gehen, werden Stühle im Raum zusammengestellt, und ich setze mich spontan-neugierig dazu. Das Treffen gilt der Rekrutierung von Personal für den Tag X: Fahrer, Wahlbeobachter und Schlangenmanager. Fahrer sollen jenen WählerInnen, die dies im Telephongespräch angegeben haben, zum Wahllokal fahren und auch wieder nach Hause bringen; „Runner” sollen kurzfristig notwendig werdende Transporte übernehmen sowie die AktivistInnen bei den Wahllokalen mit Kaffee und Donuts versorgen – und auch das Wahlvolk.
Wahlbeobachter („Poll Watcher”), amtlich zertifiziert auf Basis eines offiziellen Prozesses, sollen in voraussichtlich belebten Wahllokalen sitzen und beobachten, ob es Unregelmäßigkeiten gibt, z.B. Pannen mit den Wahlmaschinen. „Line Manager” schließlich sollen (in 10 Fuß Abstand) draußen bleiben und, neutral auftretend, WählerInnen, die Schlange stehen müssen, zum Bleiben und Wählen animieren. Die in den Wahllokalen sitzenden, überparteilich besetzten Wahlkommittees sind strikt zu respektieren – man wolle nicht arrogant auftreten, schon bevor die Wahl überhaupt angelaufen sei.
Die Leiter des Büros geben die unmissverständliche Parole aus, am Wahltag komme es auf jeden und jede, und auf jede Minute an. Niemand gehe nach Hause, bevor es vorbei sei – bevor nicht der letzte Wähler das Lokal nach Stimmabgabe verlasse. Am folgenden Abend werde es eine Trainingsveranstaltung mit Abendessen an einem zentralen Ort geben, an der teilzunehmen Line Manager wie auch Poll Watcher aufgefordert sind. Für das Fahren fehlt mir das Auto, für das Wahlbeobachten detailliertere Kenntnis der Ecken und Kanten des Wahlrechts in Pennsylvania sowie vermutlich die Staatsbürgerschaft oder wenigstens permanente Aufenthaltserlaubnis. Also entscheide ich mich, einen Tag lang eine Schlange zu managen. Einmal etwas anderes!
Der folgende Tag gehört zunächst wieder den Telefonen – anscheinend ist die gesamte Nachbarschaft nun hinreichend mit Papier behängt, aber wir hängen etwas im Abarbeiten der Telefonanschlüsse Philadelphias hinterher. Nach einer kurzen Aufwärmrunde, in der wir ein paar Dutzend Leute anrufen, die sich für die Beteiligung am Wahlkampf eingetragen hatten, und die wir um Bestätigung Ihres Auftauchens ersuchen (eine laut ihrer Angabe bereits zum dritten Mal in einer Woche), geht es weiter mit den normalen Listen und dem bereits geübten Skript.
Aufgrund meiner Übung trainiere ich heute sogar selbst ein paar Leute, was Frank für weitere Spezialaufgaben entlastet. So rasch kann man in historischen Zeiten Karriere machen. Wir kommen recht gut voran, und nach einer Mittagspause können wir sogar einem Büro eines Nachbarbezirks aushelfen, das zu wenig Leute für die ihm zugewiesenen Listen hat. Am frühen Nachmittag dann die Information, ein Fahrzeug bringe Line Manager-AnwärterInnen zur Trainingsveranstaltung, Start gegen 5 auf dem Parkplatz. Insgesamt sechs sind wir, als wir durch den Berufsverkehr die Häuserblocks entlangkriechen und uns über Sarah Palin mokieren. Mit dabei auch Pat, eine Krankenschwester um die fünfzig, die ich vom Telefonieren her kenne. Viele Frauen empfinden es als Unverschämtheit, diese als nur bedingt kompetent geltende Kandidatin angeboten zu bekommen – dieses naheliegende, aber eben auch durchsichtige Manöver, um Enttäuschung über die Niederlage von Hillary Clinton in Wechsel zum republikanischen Lager umzumünzen: Als ob Frauen jemanden einzig deshalb wählen, weil sie eine Frau ist.
Als wir ankommen, stehen wir, ironischerweise, in einer Schlange. Die Zahl der Freiwilligen ist groß, und drinnen müssen alle mit Namen, Kontaktdaten sowie Bezirk, in dem sie eingesetztet werden sollen, eingetragen werden. Staatspolizeibeamte mit Anzug und Knopf im Ohr bewachen den Vorgang. Bei der Angabe meines nicht gerade sehr amerikanisch klingenden Namens fragt mich die junge Frau am Computer in meiner Muttersprache, ob ich zufällig Deutscher sei? Sie habe eine Zeitlang dort gelebt. Die Welt ist klein. Sie erscheint noch kleiner, als ich in dem Gedränge wenig später mit meinem Namen angesprochen werde, und Jeremiah neben mir steht, ein Mitglied von DFNYC, der mir eine Unterkunft in New York für die Tage danach vermittelt hatte, und nun sich den Hundertschaften der New Yorker in Pennsylvania angeschlossen hat.
Der Trainingsraum in dem Gebäude, das Büros der Stadtverwaltung und Versammlungsmöglichkeiten enthält, ist brechend voll, als der Gouverneur eines Nachbarstaates eine flammende Begrüßungsansprache hält. Pennsylvania sei „Ground Zero” für die McCain/Palin-Kampagne, die in den letzten Tage alle verfügbaren Ressourcen in diesem wichtigen, womöglich wahlentscheidenden Staat einsetze, unter anderem für reihenweise polemische Wahlspots im TV; die letzten Wahlen seien durch mangelnde Beteiligung und Probleme mit dem Wahlprozess verloren gegangen; diesmal werde sich das nicht wiederholen, denn wir seien die „Firewall”.
Nach dieser Ansprache folgt die auch auf Handouts ersichtliche Pflichtenliste der Line Manager. Bereits um viertel nach sechs sollten wir an dem uns zugewiesenen Wahllokal auftauchen, und zu festgesetzten Zeiten per Handy Bericht erstatten, ob z.B. das Wahllokal pünktlich um sieben aufgemacht hatte, und ob etwa irgendwelche Unregelmäßigkeiten zu verzeichnen waren. Ankommende WählerInnen sollten wir begrüssen und motivieren, auch bei einer gewissen Wartezeit Geduld zu üben – wir rechneten mit hohen Wahlbeteiligungen und ergo mit Schlangen. Gegebenenfalles sollten wir die Schlange um eine Ecke lotsen, um sie für Neuankömmlinge weniger lang aussehen zu lassen, und sie bei Regen wenn möglich unter Dachvorhänge oder ähnliches dirigieren. Schließlich sollten wie ihnen notfalls Donuts und Kaffee anbieten – und im Extremfalle Hilfe herbeirufen. Berichte (und Hilferufe) seien an den jeweiligen Ward Captain zu richten. Der könne sogar die Sendung eines Tiefladers mit Musikband darauf veranlassen.
Nach dem Briefing wälzt sich dann die Hälfte der Menge, die schon Zuweisungen zu ihren Wahllokalen erhalten hatte, hinaus, der Rest in einen anderen Raum, zu dem die Treppen erst gefunden werden müssen, um die Zuweisungen zu erhalten. Pat hat gehört, wir beide hätten durch unser Fishtown-Büro schon eine, und telefoniert sich durch, bis wir Luan finden, die im Erdgeschoss bei der Essensausgabe steht und im Auftrag der Kamapagne in Philadelphia fehlende Zuweisungen verteilt. Während wir von Papptellern ein überraschend reichhaltiges Mahl verzehren, erhalten wir ein „Recreation Centre”, also einen Komplex aus Sporthalle und Sport- sowie Spielplätzen, der morgen zum Wahllokal umfunktioniert werden wird. Wir suchen danach unsere MitfahrerInnen zusammen und begeben uns nach Hause – am Tag X müssen wir früh heraus.
Meine Uhr piepst um halb fünf. Im Dunkeln laufe ich zum Büro, wo Pat mich aufsammelt, und wir bei einem Donut-Laden ein frugales Mahl mitnehmen, das wir im Auto essen, während wir vor dem noch verlassenen Sportzentrum pünktlich in Position gehen. Gegen halb sieben laufe ich einmal um das leicht renovierungsbedrürftige Gebäude herum und entdecke Licht darin. Kurz danach kommen die Leute vom Wahlkommittee herein, und wir stellen uns dem demokratischen Mitglied, genannt Pinky, vor – ein Urgestein dieses Wohnviertels, die so ziemlich alle Wählenden persönlich zu kennen scheint, inklusive ihrer Wahlgewohnheiten. Sie wird den Wahltag in einem Klappstuhl vor dem Wahllokal sitzend verbringen, fröhlich scherzend mit den anwesenden Leuten der Republikaner.
Kurz vor sieben scheint alles bereit zu sein – im Inneren haben sich bereits zehn Personen versammelt, laut Pinky ein Novum. Dies wird auch die einzige Schlange sein, die wir an diesem Tag zu sehen bekommen werden. Philadelphia hat so viele Wahllokale, dass jedes nur um die 500 WählerInnen bedient. Obwohl die Wahlquote hoch ist – bis auf über 75% wird sie klettern, etwa doppelt soviel wie sonst – tröpfeln die Leute nur einzeln und in kleinen Grüppchen (in „dribs and drabs”) vorbei, manche mit irgendwo gerade abgeholte Kindern. Aber – das konnte man ja vorher nicht wissen, es hätte ebenso gut sein können, dass sich die zusätzlichen Stimmwilligen alle in der Mittagspause drängen, oder in den Abendstunden.
Inzwischen ist ein weiterer Anwohner aufgetaucht und hat rechts vom Eingang Plakate von Obama sowie von lokalen Kandidaten aufgehängt, über die heute auch mit abgestimmt wird. Derweil haben die Republikaner links vom Eingang die Gegenplakate aufgehängt, und da dies erledigt ist, schwatzt man fröhlich weiter. Die Republikaner scheinen sich nicht sonderlich für McCain zu interessieren. Sie tragen rote T-Shirts, die nur den Namen eines der Lokalkandidaten tragen, und nicht einmal einen Button oder Aufkleber mit Bezug auf die nationale Wahl. Pat und ich halten uns etwas abseits, beobachten die Wahl, und unterhalten uns. Einem verärgerten Mann, dessen Name mit einer falschen Initiale in den Unterlagen steht, und der deshalb nicht wählen konnte verschaffen wir die nötige Hilfe über eine Hotline zu einer Anwältin, die im Fishtown-Büro sitzt. Ansonsten verläuft der Vormittag sehr ruhig. Abwechslung, nebst Kaffee und Donuts, bringt nur ein „Runner”.
Pat erzählt mir von ihrem beruflichen Alltag, der auch nicht erfreulicher oder geruhsamer ist als der deutscher Krankenschwestern. Viel Zeit wird mit Papierkram vertan, dennoch sperren sich Krankenhäuser gegen die zunächst auch arbeitsaufwändige Umstellung auf einheitliche EDV-Systeme. Spätestens als wir anfangen, die Zahl der WählerInnen mit der der Tauben zu vergleichen, kommen wir zu dem Schluss, dass unsere Zeit auch effektiver eingesetzt werden könnte, und wie gerufen kommt Luan auf Kontrollfahrt vorbei, sieht das auch so, und gibt uns bis sechs Uhr frei.
Während Pat nach Hause fährt, um etwas zu schlafen, steige ich bei Luan ein, wir checken gemeinsam noch zwei weitere, ebenfalls ruhige Lokale, während es zu unserer Besorgnis ein wenig zu regnen beginnt – aber bald wieder aufhört. Sie liefert mich dann im Walking Fish Theatre ab, einem kleinen Theater an der Franford Avenue, ebenfalls als Wahlbüro dienend. Hier schließe ich mich spontan einer „Canvassing”-Gruppe bestehend aus Theaterwissenschaftlern an, und jetzt kann ich auch Erfahrungen im berühmten Türanklopfen sammeln, während wir potentielle WählerInnen zu Hause fragen, ob sie schon gewählt haben oder eine Fahrgelegenheit brauchen.
Wir kehren zurück, erstatten Jack Bericht, essen ein paar Happen und Kekse und nehmen uns noch ein paar weitere Blocks vor. Hier wurde ein Wahllokal verlegt, und mit einem spanischen Satz (der mir aufgeschrieben wird) und Schildern stellen wir sicher, dass die hier wohnende Latino-Bevölkerung Bescheid weiß – allerdings haben die Leute des Wahlbüros schon ganze Arbeit geleistet. Nach der Rückkehr wird es langsam Zeit, wieder bei meinem Wahllokal aufzutauchen. Ich treffe mich mit Pat, und wir schlagen wieder auf dem Sportplatz auf. Der Wahltag endet so scheinbar ruhig, wie er begonnen hat.
Irgendwann taucht ein McCain-Wahlkampfmanager auf und scheint seinen Leuten ins Gewissen zu reden, nicht nur für John Taylor Werbung zu machen; er zieht wieder ab, eine Veränderung gibt es nicht. Deren Problem. Als der letzte Wähler verrichteter Dinge das Lokal verlässt, fahren wir zurück, und ich steige gegen halb neun beim Büro aus – und sehe lauter strahlende Gesichter. Ich frage nach Hochrechnungen. Pennsylvania geht an Obama, erdrutschartig!! Ich kann es kaum fassen.
Ich eile heim, dusche, ziehe mich um, jogge wieder zurück. Im Büro steht wieder das wachsende Klappstuhlhalbrund, diesmal vor einem Projektor, der ein manchmal aussetzendes Bild mit TV-Übertragung an die Wand wirft, der Ton kommt aus den Boxen einer tragbaren Anlage. Der Jubel steigt, ist aber noch verhalten. Um Neun schließen die Wahllokale der nächsten Zeitzone, und mehr und mehr enthusiastisch beklatschen wir die Staaten, in denen Obama bereits nach Hochrechnung klar gewonnen hat. Nun hat er bereits über 200 Wahlmännerstimmen der 270 benötigten. Aber dann holt McCain auf.
Mehrere Südstaaten sind wieder an die Republikaner gegangen. Wir warten auf elf Uhr – den Wahlschluss in Kalifornien. Eigentlich ein sicherer „blauer” Staat, also mit demokratischen Mehrheiten; aber für Florida hatten die Umfragen 2004 auch einen Kerry-Sieg vorausgesagt – fälschlicherweise, und ferner wurde in Kalifornien ein republikanischer Gouverneur gewählt. Es gibt auch Europäer, die nicht für Obama sind. Punkt elf Uhr erwarten wir dann Zahlen für Kalifornien. Stattdessen erscheint ein Bild Obamas mit der Meldung: Barack Obama ist zum 44. Präsidenten der USA gewählt. Der Jubel bricht los und sich Bahn. Zuletzt habe ich mich vor einem Jahrzehnt so gefühlt. Man springt, johlt, jubelt, umarmt sich, klatscht die Handflächen gegeneinander. Es ist geschafft.
Wir hören die „Concession Speech” von McCain, respektvoll, ihm applaudierend, als er die Niederlage mit Anstand kommentiert. Und wir hören überglücklich die „Victory Speech” von Obama. Langsam werden Emails und Abschiedswünsche ausgetauscht. Erst spät in der Nacht bin ich zuhause – und kann doch nicht einschlafen.
Am nächsten Tag packe ich meine Sachen, frühstücke mit einer Kampagnenbekanntschaft, besorge meinen Gastgebern Blumen, bevor Bill mich an die South Street bringt, wo ich mit der Brieffreundin verabredet bin, die ich 2006 auf einer Tagung kennen gelernt und seither nie mehr in 3D gesehen hatte. Sie war am Tag zuvor mit dem Auto als Driver zwischen Wohnungen und Wahllokalen unterwegs gewesen. Wir tauschen uns aus und laufen ein wenig durch diesen schönen Teil der Stadt. Die Schilder sind noch in den Fenstern, Buttons aber sieht man kaum noch. Danach geht es zum Bahnhof, wo ich ein Ticket für einen offenbar gut frequentierten Regionalzug nach New York erstehe. An Bord sitze ich zwischen weiteren zurückkehrenden Obama-Leuten mit Buttons und anderem Material. Das Networking geht weiter.
Ich brause, etwas verschwitzt mit meinem Gepäck, per U-Bahn nach Südmanhattan, zur Post-Election-Party von NYC, wo ich herzlich von meinen Bekannten begrüßt werde. Ganz gemäß dem technologischen Wahlkampfzeitalter folgt nach wenigen Redebeiträgen eine Telephonkonferenz mit der Dachorganisation „Democracy for America”, DFA. Was auf witzige Weise wirklich bewegend ist, ist eine Idee der Leiterin von DFNYC: Wir singen „We shall overcome.”.
Obama kann diesen Optimismus brauchen, auf ihn wartet eine mörderisch schwere Aufgabe. Allen Erwartungen wird er nicht gerecht werden können. Die Satirezeitschrift „The Onion” hat bereits getitelt: „Black Man Given Nation's Worst Job.”. Aber ich weigere mich, diesen Zynismus amüsant zu finden. Das Prinzip Hoffung regiert weiter. Welchen Sinn hätte sonst das ganze Spektakel?