[Home] [Aktuell]

Im Vorhof der Antarktis

Unseren Reisereporter Space zieht es in kalte Gegenden -- nach seinen Sibirischen Abenteuern hat es ihn diesmal auf die Polarstern verschlagen. Hier sein Bericht:

Die FS Polarstern - das Forschungsschiff des AWI

Wieder ist es ein Blick aus einem Flugzeugfenster, und wieder auf Eis und Schnee, der mir bedeutet, daß nun das Abenteuer begonnen hat. Die 767, die uns von Santiago de Chile zur Hafenstadt Punta Arenas im Südzipfel des Kontinents bringt, gleitet über die Anden. Zwischen den Bergen und Tälern ergießen Gletscher ihre Eismassen über das Land. In der Mitte fast bläulich vor Alter, teilweise mit langen, schnurgeraden Rissen, in den Ausläufern in Eisschollen auseinanderbrechend, markieren sie die nahe Präsenz des Südpolarkreises. Die Gipfel der Berge unter uns sind schneebedeckt, und scheinbar völlig unberührt von menschlicher Aktivität. Vielerorts, wo die Täler zwischen den Gipfeln nicht tief hinunterreichen, sind auch sie mit Schnee gefüllt, von oben bieten sie sich wie riesige Schalen dar.

Aber nicht alles ist gefroren dort unten. Wo die Eisschollen beginnen, sind fließende Wasser zu sehen, die sich ihre Wege zum Pazifik suchen. Mehrfach ist ein Zufluß, wahrscheinlich aufgrund von Algen, völlig grün, als hätte jemand Wasserfarbe hinein gegossen, wie die Technikerin neben mir fasziniert bemerkt. Diese Farbe verteilt sich fächerförmig in dem jeweils aufnehmenden Fluß. Ich frage mich, ob ich ähnliches auch von Bord der FS "Polarstern" werde zu sehen bekommen, aber diese Spekulation ist müßig. Zusammen mit den anderen "PolarsternfahrerInnen" um mich her werde ich einfach abwarten, was kommen wird.

Anders als bei meinem Sibirientrip vor gut einem Jahr bin ich nicht nur betreuender Zaungast. Meine Arbeitsgruppe betreibt an Bord der "Polarstern" des Alfred-Wegener-Institutes (AWI) ein sogenanntes "Multi-Axis-(MAX) DOAS"-Gerät, welches mit 11 Teleskopen, die unter verschiedenen Elevationen und Azimuten in den Himmel blicken, solares Streulicht einfängt. Quarzglasfasern leiten das Licht in Spektrographen. Die Spektren untersuchen wir auf Absorption durch Spurengase, z.B. solchen, die für die Ozonchemie relevant sind. Das Ziel ist schließlich, Höhenverteilungen dieser Gase zu erhalten, um sie mit jenen des SCIAMACHY-Spektrographensystems auf dem jüngst gestartenden ENVISAT der europäischen Raumfahrtagentur ESA zu vergleichen. Dieses MAX-DOAS-Gerät ist zu warten und zu überwachen.

Agassiz Trawl, fragil wirkend, aber zentnerschwer

Bereits im November ist ein Diplomand unserer AG an Bord gewesen, hat die erste Etappe von Bremerhaven nach Kapstadt der gegenwärtigen Fahrt erlebt, und für die zweite Etappe einen der anderen Wissenschaftler gefunden, um die Wartung bis zu "meiner" dritten Etappe zu übernehmen. Denn allzuviele Freiwillige haben wir in unserer AG seltsamerweise nicht auftreiben können. Ich benötige die Fahrt nicht zwingend für meine eher theoretische Dissertation, aber programmieren kann ich an Bord ebenso gut wie im Kämmerlein in Heidelberg, und die Chance, auf ein Forschungsschiff in der Antarktis zu kommen, ergreift man und hebt sich die Fragen für später auf.

Bereits in Frankfurt habe ich einige meiner Reisegefährten kennengelernt. Nicht alle sind sie schon WissenschaftlerInnen mit akademischen Graden. Vier besuchen die 12. Klasse eines Gymnasiums respektive einer Berufsschule im niedersächsischen Aurich. Sie haben sich auf ein Projekt beworben, welches "die Brücke zwischen Schule und Wissenschaft schlagen soll", so die offizielle Lesart. In einem Auswahlverfahren nicht unähnlich dem etwa der Studienstiftung sind sie schulintern ausgewählt worden, sich auf der Fahrt einem der wissenschaftlichen Projekte auf dem Gebiet der Meeresbiologie anzuschließen und darüber eine 15-seitige Facharbeit zu verfassen. Auch die Presse weiß davon, namentlich für den "Stern" und die "Süddeutsche" werden sie tägliche Berichte produzieren müssen, nebst Bildmaterial aus einem Arsenal an privaten und geliehenen Kameras. Mareike, Katharina, Markus und Fadi sehen erwartungsvoll der Zeit entgegen. Alex und Regina, ihre begleitenden Lehrkräfte, beaufsichtigen sie bei ihrem Tun, ohne ihnen aber starre Vorgaben zu geben. Die Technikerin Gabi arbeitet mit zwei DoktorandInnen aus Bochum zusammen. Michael, der mein Kabinengenosse werden soll, und Wiebke werden sich der antarktischen Fauna des Benthos widmen, des Meeresbodens, der eine von der genetischen, die andere von der morphologischen Seite. Ebenfalls ab Frankfurt mit dabei ist Gert, Mitarbeiter des Finanzdezernats des Landes Bremen, das 10% der Finanzierung des Alfred-Wegener-Institutes aufbringt, sowie Rüdiger und Karl-Hermann, ein Fischbiologe bzw. Fischereibiologe.

Punta Arenas, betrachtet vom Hügel aus

Der 17-Stunden-Flug von Frankfurt in einer A 340 verläuft angenehm, da mir die Sitze ausnahmsweise das Schlafen gestatten. Auch die Bordverpflegung ist ein positives Erlebnis für einen Economy-Klässler, und geradezu wie Luxus erscheinen die LCDs in den Rückseiten der Sitze, trotzdem sie ein Eigenleben führen und sich oftmals Sekunden nach dem Abschalten wieder reaktivieren --- 1984 läßt grüßen, Multimedia ist alles. Mit einer 767 geht es weiter nach Punta.

Der dortige Flugplatz ist eher eine Ansammlung funktionaler Container, tut hier draußen am Ende der Welt brav seinen Dienst. Ein Bus bringt uns in die Stadt hinein. Punta Arena scheint Elemente verschiedener urbaner Stile zu vereinen: Eine Straße ähnelt einer Vorstadt des US-amerikanischen Mittelwestens; unmittelbar danach folgen vergammelte Hochhäuser; eine andere Zeile erinnert fast an England mit den bunt gestrichenen Zäunen und Holzfassaden. Bunte, schillernde Kirchen, wie ich sie aus Mexiko kenne, sehe ich hier nicht. Typisch für diese Gegend ist die Bauweise der Flora: Von den Grashalmen bis zu hohen Lebensbäumen sind alle Pflanzen in Windrichtung gedrückt, einige Exemplare neigen sich fast auf 45° dem Boden entgegen.

Individueller Garten am Hang

Das Hotel gehört zu unserem gelinden Schrecken (ob wir privat oder auf Kosten eines Instituts bezahlen, läuft hier auf dasselbe hinaus) zur Oberklasse, es hat vier Sterne. Eine Tafel verkündet den Preis meines Einzelzimmers auf 140 USD. Glücklicherweise scheinen wir nicht die Hauptsaison erwischt zu haben, jeder zahlt dank AWI-Sondertarif nur 80 USD. Meine Dollarreserven reichen so eben hin, für die Rückübernachtung werde ich wohl einem Geldautomaten einen Besuch abstatten. Und meine Fremdmünzensammlung bereichern. Euro sind noch unbekannt, nur mit Mühe gelingt es Alex, 10 Euro umzutauschen.

Kurz nach der Ankunft brechen wir in kleinen Gruppen auf, die Stadt zu erkunden. Magellan ist hier der große Säulenheilige, nach ihm ist auch die nahe Wasserstraße benannt, und sein Denkmal beherrscht den zentralen, kleinen Park. Wer seinen blank gewienerten Fuß berührt, der übersteht seine kommende Seereise -- ich kann mir solcherlei noch eben verkneifen. In der Einkaufsstraße finden wir das Hauptpostamt und erstehen in einem kleinen Lädchen Postkarten und Briefmarken für die Daheimgebliebenen.

Die sozialen Hierarchien sind gut erhalten. Europäischstämmige sind mittlere und höhere Angestellte, indianischen BürgerInnen bleiben kleine Verkaufsjobs und die Dreckarbeit vorbehalten. Wir besteigen den höchsten Punkt der Stadt. Individualisten scheinen hier zu leben, die Holzfassaden der Häuser sind knallbunt, Pippi Langstrumpf läßt grüßen. Hinter abblätternden Zäunen wuchern verwunschene, sehr hübsche kleine Gärten. Hunde spielen zwischen den Zäunen. Die Aussicht auf die Stadt und den Ozean dahinter wirkt fast lieblich.

Unser nächstes Ziel ist der Friedhof, laut Reiseführer eine Touristenattraktion. Eine hohe Mauer umgrenzt das Gelände, mit einem massigen Portal an seiner Nordseite. Unvermittelt fühle ich mich in H.P. Lovecrafts "Stadt der Toten" versetzt, denn genau dies ist es. Mausoleen fast in der Größe kleiner Cottages stehen nahe dem Eingang und zeugen von der Wichtigkeit der hier bestatteten Familien, deren im Ausland lebenden Nachkommen noch ganze Straßenzüge im Zentrum gehören. Wege mit Straßenschildern führen zwischen Reihen immer kleinerer Grabmäler hindurch, die jeweils aus einem Zaun, einem Gartenstückchen mit Weglein in der Mitte und dem Schrein bestehen, in welchem oft hinter Glas Photos, Marienbilder und ähnliches die Toten bewachen. Einige Grabinschriften sind deutsch, andere englisch oder auch serbokroatisch. Das makaberste jedoch erhebt sich an der Rückseite des Friedhofs: Eine Wohnmaschine für Tote mit 6 Etagen für die weniger Privilegierten, jeweils 50 auf 70 cm ist jedem Sarg zugestanden, welcher der Länge nach hineingeschoben und eingemauert wird. Hinter dem Bau sichtbar türmt sich ein heruntergekommenes Wohnhochhaus außerhalb des Friedhofes. So wird die Klassengesellschaft nahtlos ins Jenseits perpetuiert.

Klassengesellschaft bis in den Sarg

Wir verlassen den Friedhof wieder und gehen langsam zum Hotel zurück, das an einem derzeit fast leeren Bachbett liegt. Der Jetlag läßt mich früh erwachen. Ich mache einen Morgenspaziergang im Park, erstehe einen kleinen Marmorpinguin. Punkt 11 Uhr steht ein Bus vor der Tür, der uns zur fast 120 m langen "Polarstern" bringt. Schon von weitem sind ihre mächtigen Kräne und Aufbauten sichtbar. Sie kann als Eisbrecher arbeiten, um, wie auf der letzten Etappe, Polarstationen zu versorgen, und hat sogar zwei kleine Helikopter für Erkundungsflüge an Bord. Der Fahrtleiter verteilt und anhand seiner Liste auf die Kabinen und wir verstauen die Sachen. Mein Mitbewohner hält mir mit der Frage "Bist Du geruchstechnisch ein bißchen belastbar?" eine kleine Plastiktüte mit halb zerquetschten Asseln vor die Nase, die er zu Vergleichszwecken am Strand gesammelt hat. Morgen wird er sie in ein geeignetes Labor überführen, zunächst wandert sie in ein Schränkchen.

Unsere Kabine mißt etwa 20 Quadratmeter und umfaßt ein kleines Bad mit Naßzelle und Waschbecken, und einen Hauptraum mit zwei Kojen, einem Schreibtisch mit Stuhl, und einem Sofa mit kleinem Kühlschrank, welche die rückwärtige, zum Bug weisende Wand einnehmen. Über dem Sofa gestatten zwei doppelt verglaste Bullaugen den Blick auf Bug und Kran. Der Schreibtisch läßt sich durch ein Tischelement ausbauen, und verwandelt das Sofa in einen zweiten, komfortablen Arbeitsplatz. Anschlüsse für Bordnetz und Intranet sind ausreichend vorhanden, Stauraum für die Kleidung ebenfalls. Schnappverrieglungen verhindern ein Aufschwingen der Schranktüren, wenn sich durch den Seegang der Inhalt selbständig macht. Die Bücherborden sichern hölzerne Querstäbe. Auf den Tischflächen liegen Stücke speziellen Plastikmaterials, welches unter Druck nur sehr schwer verrutschen kann, und darauf gelegten Gegenständen Haftung verleiht. Dieses Material findet sich auch unter der Steuereinheit unseres Meßgerätes, sowie auf fast allen Tischflächen in den Labors und Arbeitsräumen. Diese Vorrichtungen, sowie die Effizienz, mit welcher der Platz ausgenutzt wird, machen eines deutlich: Wir sind hier nicht an Land.

Ein wenig labyrinthartig wirkt der Wohntrakt, am ersten Tag verläuft man sich leicht in den Korridoren. Zwei längs verlaufende Korridore werden von den anderen Kabinen gesäumt. Zwischen ihnen liegen der Vorlesungsraum, die Messe, der Rauchsalon. Zwei Decks über mir, hinter der Brücke gelegen, nehmen der Funkraum und die Wetterstation die Breite des obersten, des A-Decks, ein. Die beiden Meteorologen Klaus und Reinhard sind die ersten, die ich an Bord näher kennenlerne. Sie schauen direkt auf unseren MAX-DOAS-Aufbau. Einem Medusenkopf ähnlich laufende Dutzende von Kabeln von einem zentralen Rack mit den Controllern für Lampen, Motoren und Kühlungen zu den beiden Spektrographen. Der eine mißt im sichtbaren Spektralbereich, der andere im UV. Ein PC steuert die Messung, sein Flachbildschirm zeigt den Status der Messung, die Belichtungszeit, das letzte Spektrum etc. Zwei gummiummantelte Schläuche mit weiteren Leitungen und den Quarzglasfasern führen zum eigentlichen Meßgerät, welches auf dem Peildeck, hinter der Brücke, an die Reling geschraubt ist. Aus einem blauen Kasten ragen neun Teleskope heraus wie Stielaugen aus einem Roboterkopf; ein zehntes Teleskop ist an einem Motor seitlich angeschraubt. Beweglich hängt der Kasten in seiner kardanischen Aufhängung, welche den Seegang kompensiert.

Meine Kabine - rechts das sibirische Notebook

Die Brücke, da einige Treppenstufen oberhalb des A-Deck gelegen, gibt dem Aufbau ein wenig Schutz vor allzu hohen Gichtfontänen. Auf dem "Dach" der Brücke, also dem oberen Peildeck, stemmt sich eine ganze Ansammlung von Antennen dem starken Wind entgegen. Lange, schlanke Radioantennen umgeben die wuchtige Satellitenantenne. Sie bietet, wenn der Satellit über dem Horizont ist, Telephon-, Fax- und Emailverbindung. Dreimal am Tag werden Emails ausgetauscht, jeweils gegen 7:00, 12:00 und 19:00 Bordzeit. Ferner kommt täglich ein dreiseitiges Nachrichtendossier herein, das auch Sport, Kultur etc. enthält, jedoch die Meldungen, etwa über ein Treffen zwischen Schröder und Bush, in nur wenigen Zeilen abhandelt.

Um 17:00 laufen wir aus. Behäbig hebt der Kran das zierlich wirkende Reep an Bord, wo die Seeleute es an Halterungen festschrauben. Zwei Seitenstrahler schieben das Schiff nach Backbord, an Bug stärker, der sich gegen den Atlantik wendet. Bald laufen die Hauptmaschinen mit ihren 20000 PS an und beschleunigen das Schiff auf gut 10, später 14 Knoten, der Reisegeschwindigkeit. Völlig symmetrisch zieht unsere Bugwelle hinter uns her. Das Wetter ist herrlich, die See ruhig. Einige Kormorane sitzen auf dem Wasser, und Pinguine, hunderte Meter entfernt, stecken ihre Köpfe aus dem Wasser, beäugen, wer vorbeizieht, und tauchen rasch wieder ab. Punta Arenas wird immer kleiner, als das Schiff sich in die Magellanstraße vorarbeitet.

Nach dem schmackhaften Abendessen, das die positiven Gerüchte über die Bordküche bestätigt, stellen sich die Fahrtteilnehmer auf einem ersten Meeting im Vortragsraum vor. Insgesamt 42 WissenschaftlerInnen sind versammelt, Doktoranden, Postdocs, ProfessorInnen und technische MitarbeiterInnen, kommen aus 10 Ländern, und sind fast alle BiologInnen. Sie werden die vielfältige Fauna des Meeres und seines Grundes untersuchen: die Arten und Populationen, ihre Morphologie und ihre DNA. Ich fürchte, etwas isoliert zu sein als einziger Physiker, denn Christine, eine Geologin des AWI, und Marie, eine US-amerikanische Chemikerin und unsere Nachbarin, sind ebenfalls in die biologischen Projekte involviert. Das größte heißt (auch BiologInnen mögen Abkürzungen für ihre Kampagnen) "ANDEEP" für "Antarctic Deep Sea". Aber die Befürchtung soll sich rasch zerstreuen.

Nach dem Meeting zieht die Gruppe los und verteilt die Labors unter sich. In allen Größen durchziehen diese das E-Deck (das eigentliche Deck im anschaulichen Sinne, auf dem die Aufbauten mit den Decks D-A scheinbar aufsitzen) sowie das F-Deck darunter, welches ferner Lager- und Kühlräume beherbergt. Die noch tieferen Decks bergen die Maschinen sowie Tanks etwa für Wasser und Treiböl.

Arbeitsdeck -- Netze und Winden

Der Raum für das Sonarsystem "Hydrosweep" und der Pool mit PCs, Mac- und Unix-Terminals für Email und Textverarbeitung nehmen einen gut Teil der Breite des Innenraums auf dem E-Deck ein. Spanngurte und das erwähnte Plastikmaterial sichern die Computer, Monitore und Mikroskope gegen ungewollte Bewegung. Klaus zeigt mir Kratzspuren, die entstanden sind, als bei schwerer See ein Monitor über Tastatur und Stuhl gegen die Kante des nächsten Tisches segelte. Einen achteraus führenden Korridor säumen Labors in Bürogröße, die am nächsten Tag kleinere Teams beziehen und mit weiteren Mikroskopen und Behältern anfüllen werden. Er führt zu einem großen Naßlabor, das an einen Lagerraum gemahnt und später die gefangenen Seesterne, Schwämme und anderen Tieren für erste Sichtung beherbergen wird. Ein Niedergang, eng und schmal, führt hinunter, wo das kleine Fischlabor im Heck liegt, direkt unter der Klappe, durch welche der Inhalt der Netze auf dem Arbeitsdeck draußen herabgelassen wird. In einem auf 4° gekühlten Container stehen dicht an dicht Aquarien. Sie werden lebend gefangene Amphipoden (Asseln) beherbergen, die nahe dem Meeresboden gesammelt werden, und deren Lebenszyklus Forschungsgegenstand ist. Die Kühlkammern nehmen eingelegte Specimen zur weiteren Untersuchung auf.

Ein Schott führt auf dem E-Deck auf die Holzplanken eines längs laufenden Korridors, er verbindet einen Frachtraum mit Containern mit dem achteraus liegenden Arbeitsdeck. Direkt anliegend stehen weitere Labors zur Verfügung, die von der Gruppe meines Kabinengenossen verwendet werden. Vor dem Ausgang ins Freie stehen Maschinen zum Shreddern des Abfalls, getrennt nach Glas, Metall und Plastik. Die Abfallverwertung ist gezwungenermaßen völlig autark. Die Abwasser fließen in ein mit Bakterien arbeitendes Aufbereitungssystem. Rechts hängen kleine rote Schwimmwesten und Schutzhelme, deren Tragen beim Gang ins Freie Pflicht ist. Bei starkem Seegang können Wellen sehr wohl über die Reling hereinbrechen.

Arbeitsdeck -- Netze und Winden

Das Arbeitsdeck ist wie ein "L" geformt, mit dem Querschenkel quer zur Längsachse des Schiffs, und dem vertikalen Teil auf der Steuerbordseite längs verlaufend. Auch die Aufbauten sind wie ein "L" geformt, welches mit dem freiliegenden "L" verschränkt ist. Beim Betreten des Decks unterquert man einen der Kräne, der ausschwenkbar und mit einer Winde versehen Objekte seitlich zu Wasser lassen kann. Die Hauptwinde ist in den Aufbauten untergebracht, und mißt schätzungsweise gut 10 m im Durchmesser. Sie läuft über den von Trawlern bekannten Heckkran, der auch das große Netz schleppt. In einem von einer niedrigen Stahlschwelle abgegrenzten Bereich, der den Längsschenkel des "L" durchläuft und den Querschenkel passiert, liegt das Netz schon bereit, die gelben Schwimmer sehen aus wie vergessenen Wasserbälle. Der Bereich endet an einer Heckklappe. Nach meinem kleinen Erkundungsausflug gehe ich noch einmal die Unterlagen des Meßgerätes durch, und befestige mein Notebook, auf dessen Deckel inzwischen das ANDEEP-Logo prangt, mit Klebeband am Schreibtisch. Es ist zwar hart im Nehmen, und bislang verlief die Fahrt sehr ruhig, dennoch möchte ich das Totalverlustrisiko gering halten.

An unserem ersten Morgen auf See, pünktlich um 6:30, legen meine beiden Wecker los. Mein erster Weg führt hinunter zum PC-Pool, aber der Sysop ist noch nicht am Platz. Ich bringe die Positionsangabe (Länge und Breite) des MAX-Gerätes auf den neuesten Stand, damit das Steuerprogramm den Sonnenstand korrekt ausrechnet. Das Frühstück beginnt pünktlich um 7:30, Mittagessen wird ab 11:30 serviert, Abendessen ab 17:30; jeweils eine Stunde später soll die Mahlzeit beendet sein -- die Stewards und Stewardessen haben auch noch anderes zu tun. Wenn viele gleichzeitig essen wollen, werden Dessert und Kaffee auch im angrenzenden Rauchsalon zu sich genommen, um Platz zu schaffen für andere.

Um 9.00 versammeln sich alle im Vorlesungsraum zum täglichen Meeting, auf welchem der Fahrtleiter das Tagesprogramm rekapituliert und Reinhard den Wetterbericht auflegt. Meist hält jemand einen Vortrag über Ergebnisse des letzten Tages oder früherer Kampagnen oder auch eine Übersichtsvorlesung. Der weitere erste Tag vergeht mit Bastelarbeiten und Überprüfung des Geräts. Mein Vorgänger hat bereits festgestellt, daß ein paar kleinere Probleme mit dem Prototyp aufgetreten sind, derer ich mich vorrangig einmal annehmen soll. Nach einigen Tricks läuft das System fast fehlerfrei, und die wenigen manuell erforderlichen Messungen sind schnell absolviert. Nun kann ich mich meiner eigentlichen, eher theoretischen Dissertation zuwenden, die sich mit der Modellierung der Lichtwege durch die Atmosphäre befaßt, welche für die Umwandlung der Meßwerte in besagte Höhenverteilungen erforderlich ist. Parallel dazu werde ich das Meßprogramm weiter optimieren.

Die Tage sind lang im antarktischen Sommer, und es gibt Plätze mit wenig Ablenkung. Meist halte ich mich in unserer Kabine auf, wo ich programmiere. Die Niedergänge nach oben sind schnell überwunden, wo ich am Gerät dreimal am Tag die Schiffsposition neu eingebe, und verschieden Anzeigen in ein Meßbuch übertrage. Natürlich bleibt auch Zeit, die biologische Erforschung der Tiefsee kennenzulernen. Ein wenig ab vom Schuß sind wir, die Wetterwartenbesatzung und ich, schon ein wenig, fachlich wie räumlich. Aber mein Zimmerkamerad erklärt mir viel.

Seine Gruppe betreibt einen Unterwasserschlitten, den "Epibenthos Sledge", kurz EBS. Er besteht aus einem quaderförmigen Stahlrahmen, in welchem zwei Klappen den Weg in zwei Säcke eröffnen, welche ihrerseits in zwei zylindrischen Behältern enden, die mit einem engmaschigen Sieb abschließen. Das Prinzip ist einfach: Die große Winde läßt die Konstruktion auf die Wasseroberfläche hinab, wo sie in der korrekten Ausrichtung auftreffen muß, und hinunter auf den Grund. Trifft der Schlitten auf den Boden auf, drückt das Gewicht des Schlittens einen langen Arm, der bislang daraus hervorragte, in den Rahmen hinein. Mittels eines Hebelsystems öffnen sich die Klappen, und Wasser strömt durch den Schlitten, während das Schiff ihn mit 0.5-0.6 Knoten hinter sich herzieht. Die Organismen sammeln sich in den Gefäßen.

CTD-Sensor -- Conductivity, Temperature, Density

Die anderen Gerätschaften wirken ein wenig wie Raumsonden, etwa der "Multicore Sampler" oder kurz "Multicorer" mit einem Ring aus zylindrischen, nach unten weisenden Sammelbehältern, der in einem äußeren Rahmen hängt. Die Winde senkt auch diesen Apparat hinab, mit 1 m/s Geschwindigkeit; setzt der äußere Rahmen auf, so sackt der Röhrenring noch weiter hinunter, die Behälter bohren sich ins Sediment. Kommen sie zum Halt, so drückt ein schweres Gewicht durch den noch erhaltenen Impuls Stahlfedern hinunter, welche Klappen, für jede Röhre zwei, freigeben und zuschnappen und das Sediment einschließen lassen. Die Winde zieht das Gerät unmittelbar danach wieder empor, und die Wissenschaftler analysieren die Proben auf Zusammensetzung und auf Lebensformen. Etwas komplizierter ist der "Boxcorer", oder "Großkastengreifer". Sein Hauptelement ist eine würfelförmige Anordnung aus fünf mal fünf eckigen Behältern, die oben und unten wie die Röhren offen sind und durch dünne Stangen aneinander gehalten werden. Auch sie hängen in einer Halterung, welche, in der Vertikalen beweglich, in einem äußeren Rahmen befestigt ist. Die innere Halterung läuft oben in einen gut zwei Meter langen, vertikalen Arm aus, an welchem das Halteseil befestigt wird.

Das zweite auffallende Element ist ein ca. 2.5 m langer Schwenkarm, der an seinem unteren Ende an einem Drehgelenk am inneren Rahmen sitzt und unten in einer schweren, wuchtigen Schaufel endet. An seinem oberen Ende sitzt eine Rolle, zu der ein Drahtseil aus dem Vertikalarm des inneren Rahmens heraus- und danach wieder in ihn hineinführt. Auch hier setzt der äußere Rahmen auf, die Behältnisse sinken mit ihrem inneren Rahmen bis etwa 40 cm tief in den Boden, falls er nicht mit zuviel Geröll bedeckt ist. Beim Vorbeistreifen legt der äußere Rahmen am inneren einen Hebel um; der löst die Halterung, welche letzteren mit dem Windenseil verbindet. Dieses ist zusätzlich an dem internen Drahtseil eingehakt. Zieht die Winde wieder an, so wird das interne Seil nach oben aus dem vertikalen Arm herausgerissen, und der Ausleger des Schwenkarms an eben jenen Arm herangezogen -- über das Drehgelenk schwenkt die Schaufel unter die Behälter und schließt das Sediment ein.

Unterwasserkamera mit Beleuchtung

Ebenfalls ein Stahlrahmen beherbergt ein System von Unterwasserkameras. In einer hermetischen Stahlummantelung sitzen zu meiner Überraschung handelsübliche Spiegelreflexkameras, die mittels Drähten und mechanischen Hebeln vom Steuercomputer bedient werden. Eine blickt senkrecht nach unten, einen 1m x 1m großen Sedimentabschnitt erfassend. Eine andere blickt auf einen in 45° montierten Spiegel, der seinerseits in einem nach unten spitz zulaufenden Gehäuse sitzt, das sich, analog dem bei den "Corern" beschriebenen Prinzip, in den Boden senkt: So werden die obersten Zentimeter des Sediments seitlich photographiert. Eine Videokamera für bewegte Bilder von Fischen, Seeanemonen und Schwämmen und ein wasserdichter Scheinwerfer zur Erhellung der totalen Finsternis, die in mehreren tausend Meter Wassertiefe herrscht, nebst Akkumulatoren vervollständigen das System. Es wird entweder aufgesetzt oder in gut einem Meter Höhe über den Boden gezogen; ab und an konnte gerade jene Höhe nicht genau genug durch das Sonarsystem festgestellt werden, und einige der Videoaufnahmen, die Bob, der verantwortliche Wissenschaftler, bei den morgendlichen Meetings vorführt, wirken wie Rodeo-Ritte: Unter mächtigen Wolken aufgewirbelten Sandes prallt das System immer wieder auf Sediment, nur in Bruchteilen von Sekunden ist schemenhaft ein Fisch oder ein Seestern zu sehen, und als es gegen Ende der Etappe einmal zu arg wirkt, kommentiert einer der Biologen trocken: "Wir fischen da jetzt besser mal, bevor Du alles zusammenhaust." Aber die meisten Aufnahmen gelingen, und der Faszination dieser Welt drei, viertausend Meter unter dem Meer kann sich keiner entziehen, auch (besser: erst recht) kein Physiker. Obschon das System nur für 3500 Meter ausgelegt ist, zeigt Bob am 16.2. sogar Bilder aus 5000 m Tiefe.

Zusammen mit der Kamera lassen sie eine kleinere Konstruktion namens "CTD" hinunter. CTD steht für Conductivity (aus der Leitfähigkeit leitet sich der Salzgehalt (die Salinität) des Wassers ab), Temperature und Density (gemessen mittels eines Dichtesensors). Das so erhaltene Vertikalprofil kann mit den durch die anderen Geräte erhaltenen Funden korreliert werden. Etwas bekanntere Formen haben die letzten zwei Instrumente, der "Agassiz-Trawl" und das große Netz. Ersterer besteht aus einem etwa zwei Meter Kantenlänge messenden Schlitten aus massivem Stahl, der mehrere hundert kg wiegt. An seinem ehemals gelb lackierten, doch äußerlich stark gerosteten Gestänge hängt ein kleines Netz. Wie den anderen Schlitten schleppt die "Polarstern" ihn über den Meeresboden gezogen, um Tintenfische, Fische, Seesterne und andere Wesen zu sammeln, die zu groß sind, um in die Behälter des EBS zu passen. Das große Netz unterscheidet sich in nichts wesentlichem von den auf Fischtrawlern üblichen, es dient der Forschung über die Fischpolulationen in der gesamten Wassersäule.

Elephant Island

Nach zwei Tagen Fahrt durch die windige Drake-Passage und über die Shackleton Fracture hinweg sehen wir morgens aus unserem Kabinenfenster, und erblicken, am Bug vorbeispähend, eine gletscherbedeckte Insel: Elephant Island. Diese Insel ist eng mit dem Schicksal des berühmten britischen Forschers Ernest Shackleton verknüpft, der mit seiner Crew vom Packeis überrascht wurde, und seine Leute auf dieser Insel absetzte, bis er Hilfe organisieren konnte. Mit der Insel tauchen Wale auf, allerdings weit weg. Mit Ferngläsern stehen wir, durch die Brücke informiert, an der Reling und beobachten die Fontänen der Buckelwale. Albatrosse und Kapsturmvögel umkreisen das Schiff, zutraulich, in teils wenigen Metern Entfernung. Hier, vor und um Elephant Island, geht denn auch die Suche nach anderem Leben los. Die Teams haben mit dem Fahrtleiter die Samplingpunkte, Stationen genannt, nach der lokalen Wassertiefe und ihrer Orientierung in Bezug auf Strömungen und die leicht L-förmige Insel ausgewählt. So ist einer der Forschungsgegenstände, was die Fauna in dem nur wenige hundert Meter tiefen Wasser des Schelfs, also nahe dem Land, von jener der Tiefsee weiter draußen unterscheidet. Zuerst lassen sie jeweils die Kamera und das CTD hinab, danach gehen der EBS und der Agassiz-Trawl auf die Reise, zuletzt das große Netz, das nicht stationär eingesetzt wird, sondern mit 3 Knoten geschleppt wird, während die "Polarstern" bereits die nächste Station anläuft. Ein Gerät ist je nach Wassertiefe bis zu sechs Stunden unterwegs. Der Zeitplan ist von diesen Laufzeiten und von den Wegen zwischen den Stationen abhängig.

So kommt es, daß die EBS-Leute, die sich auch für den Agassiz-Trawl interessieren, oft zweimal pro Nacht hinaus aufs regnerische E-Deck müssen. Der erste Versuch mit dem Schlitten findet in der Nacht zum Sonntag statt, dem vierten Tag auf See und schlägt fehl. Auf dem teils rauhen Untergrund ist der lange Arm aus massivem V4A-Stahl wahrscheinlich an einem Felsen hängengeblieben und entlang der Schweißnaht abgerissen. Ein lebhafterer Eindruck von den Kräften, die sich hier aneinander abarbeiten. Hindernisse sind für alle unsere am Benthos eingesetzten Geräte ein Problem. Eine anmontierte Kamera gibt es nicht, und mit bis zu 5000 m Drahtseil zwischen Schiff und Gerät ist ein Ausweichen auf dem Meeresboden ohnehin schwer vorstellbar. Trotz der geringen Geschwindigkeit sind die bei Kollisionen auftretenden Kräfte enorm. Aber die Schiffswerkstatt kann den Arm mit Bordmitteln replizieren. Den ganzen folgenden Tag sind Michael und Wiebke draußen und montieren den Ersatzarm. Michael lädt mich ein, am zweiten Versuch teilzuhaben. Um 19.00 betrete ich im orangefarbenen Overall, das ich inzwischen aus meinem in einem Container gelagerten Seesack geholt habe, das E-Deck. Der Schlitten ist bereits am Haken der Winde befestigt. Gemächlich hebt sie ihn an und hievt ihn über die Heckpforte. Einer der Seeleute hält ihn an einem dünnen Seil in der korrekten Ausrichtung, erst einmal im Wasser, verhindert die interne Gewichtsverteilung ein Drehen. Unter dem Scheinwerferlicht verschwindet das Gerät in der Gicht. Nun ist nichts weiter zu tun. Michael und ich gehen in unsere Kabine.

Gefangene Tiefseefauna -- Seesterne, Seegurken, Anemonen...

Um 22.00 finden wir uns abermals unten ein. Die südliche Breite macht sich bemerkbar, es ist noch hell genug, um Umschau zu halten. Unvermittelt taucht der EBS wieder auf. Erneut muß es mit irgend etwas in der Tiefe kollidiert sein, einer der Hebel, welche die Klappen der beiden Behälter miteinander verbinden, ist teils abgerissen und ragt verbogen heraus. Der Kran hebt es sacht über die Pforte, und zwei Seeleute lagern es auf einer Palette. Sobald sie ihr OK geben, springen Michael, Wiebke, Gruppenleiterin Angelika, und ihre Mitarbeiterinnen Gisela und Brigitte über die Absperrung und fangen an, mit rasendem Tempo die beiden Behälter abzuschrauben. Diesmal war die Mission ein Erfolg! Unter dem Scheinwerferlicht offenbart sich ein filigranes Material, viele kleine Würmer und Krustentierchen. Sorgfältig stellen sie die Behälter in Alkohol und bringen sie in einen Kühlraum.

Nachdem der Schlitten auf seiner Palette fortgerollt ist, bereiten die Männer das Aussetzen des "Agassiz-Trawl" vor. Michael und ich gehen kurz zu Bett. Aber wenige Stunden später, es ist noch Nacht, stehen wir wieder unten, neugierig auf den Fang. Die Ausbeute ist eher gering, hauptsächlich Steine scheinen das Netz zu füllen. Aber beim näheren Hinsehen sind einige Seesterne dabei, und ein Fisch, mit langem spitzem Schwanz an Stelle einer Schwanzflosse. Augenfällig wird, daß wir es hier mit einem völlig anderen Ökosystem zu tun haben als es bei uns anzutreffen ist. Ich erfahre später, daß es ein "Rattenfisch" ist. Auch in der folgenden Nacht bin ich dabei, dieses Mal geht alles glatt.

Tintenfisch -- vor der Sezierung

Dafür ereilt an einem der folgenden Tage den Agassiz-Trawl ein Mißgeschick. Als blinder Passagier kommt ein mächtiger, tonnenschwerer Felsbrocken mit herauf. Offenbar kurz vor dem geplanten Emporziehen ist der Trawl mit ihm kollidiert, und er hat sich aufgrund seiner Form so unglücklich im Rahmen verkeilt, daß er mit Vorschlaghammerschlägen zertrümmert werden muß, um ihn frei zu bekommen. Vorerst bleibt er auf dem E-Deck liegen, denn hereinholen kann man ihn bei dem Gewicht nicht so leicht. In den nächsten Tagen pendeln wir nördlich von Elephant Island auf einer Nord-Süd-Linie hin und her. Am Dienstag, dem sechsten Tag unserer Reise, kommt über tiefer See erstmals das große Netz zum Einsatz. Es formt unter Wasser eine Art Beutel, der durch die gelben Schwimmerbälle in Form gehalten wird. Mit 3 Knoten Fahrt schleppt das Schiff das Netz durch das Meer. Gegen 9:00 ist es zurück. Ich betrete das E-Deck, als das Netz bereits an Deck ist. Mit dem "Haul" sind die Teams scheinbar zufrieden, viele, viele Fische, Seesterne aller Größen sowie Oktopusse hängen in den Maschen. Außerdem wieder Krustentiere, einige muten an wie aus einem Buch über die Uhrzeit. Ich helfe beim Absuchen der Maschen, keine angenehme Tätigkeit, es ist nur knapp über Null, und der Fischschleim auf den bloßen Händen ist nicht wesentlich wärmer. Rasch füllen wir mehrere Eimer und tragen sie in die Labors.

Am Tag darauf, morgens, sehen wir unseren ersten Wal, die Brücke meldet über Lautsprecher die Sichtung eines Orcas an Steuerbord. Ich würge hastig das Mailprogramm ab und eile aufs Peildeck. Als ich ankomme, ist das Tier inzwischen backbords. Ich sehe zunächst nichts. Aber Gillian, die exzellente Augen besitzt, zeigt uns genau, wo wir hinschauen müssen, und nach einer Minute etwas hilflosen Spähens machen wir eine ganze Herde aus. Zwei Stunden später schwimmt eine Robbe neben uns her, und taucht immer wieder kurz auf, scheinbar so neugierig auf uns wie wir auf sie. Die Wale begleiten uns in den folgenden Tagen, am Donnerstag sichten wir erneut eine Herde. Am diesem Abend übernehmen Regina, die Lehrerin, und ich den Ausschank im "Zillertal", der Bordkneipe, die reihum von allen Mitfahrenden in Zweierteams betrieben wird, an drei Abenden in der Woche. Eine Liste enthält die Namen aller potentiellen Gäste, getrennt nach Schiffsbesatzung und WissenschaftlerInnen.

Gletscher und Wolken

Mit einem Aufwasch lernen wir alle Namen einmal kennen. Besonders auffällig wird hier, was sich bereits in den letzten Tagen, offenbar als Tradition auf diesem Schiff, eingestellt hat: Jeder duzt sich mit jedem. Privatdozentin mit Maschinist, Matrose mit Doktorand, Doktorand mit Professorin. Die einzige Ausnahme bilden der Fahrtleiter und der Kapitän, die von fast allen gesiezt werden, und die Schüler, die ihre Lehrer siezen müssen. Ich führe das auf den Teamcharakter in naturwissenschaftlichen Arbeitsgruppen zurück, wo der Kommunikationsstil ebenfalls leger ist. Und ich frage mich, ob sich so etwas auch unter HistorikerInnen, AltphilologInnen oder JuristInnen einstellen würde, führen sie auf der "Polarstern" mit.

Am Freitag mache mit dem Fahrtleiter aus, daß ich am Samstag, im Rahmen des 9.00-Meetings, meinen Vortrag über das MAX-Gerät halte. Einen festen Vortragsplan gebe es nicht, da man nie genau voraussagen könne, wann das Heraufholen eines Geräts bestimmte Leute unten beschäftige, entscheide man über Vortragstermine spontan. Ob ich morgen könne? Sicherheitshalber mache ich mit Regina und Alexander aus, einen Probevortrag bei ihnen zu halten. Ich erstelle den Vortrag völlig neu, und versuche, das Prinzip der Messung zu vermitteln. Regina und Alexander helfen mir sehr dabei, den Vortrag eingängiger zu machen. Leider ist diesem Bemühen nur ein mäßiger Erfolg beschieden. Mein typischer Fehler, zu schnelles Reden, holt mich auch vor der Antarktis ein. Bob jedoch lobt meinen Talk im Vorübergehen. Mit ihm kann man sich gut unterhalten, z.B. über technische Fragen zu seinem Kamerasystem.

Am Sonntag trägt Bob einen Schlips. Claude und Patrick aus Belgien halten einen Vortrag über die Nahrungskette der antarktischen Fauna. Der Vortrag gefällt mir, und auf Anfrage nimmt mich Patrick, ein etwas bärbeißig wirkender Mensch, der beim Ausschank immer doppelt Gin bestellt, mit hinunter in sein Labor, das sich zwischen den anderen Labors einreiht und gleich neben dem großen Naßlabor liegt. Auf dem Weg bietet er mir Kaffee an, und meint, was ich zum Frühstück gehabt hätte, sei ja nur gefärbtes Wasser gewesen. Sie haben eine Espressomaschine unten stehen, und der Inhalt der kleinen Tasse, die für mich aufgebrüht wird, schmeckt eben doch eine Größenordnung anders. Er leiht mir eine CD mit teils unveröffentlichten Daten, aus der ich mir bestimmte Verzeichnisse kopieren darf, und druckt mir ein Paper aus. Die morgendlichen Vorträge finde ich zunehmend interessant, obschon ich mich bislang nie mit dem Gebiet beschäftigt hatte. Am Montag weist Reinhards Wettersatellitenbild eine beeindruckende Struktur auf: Eine fast geschlossene Wolkendecke überdeckt das Gebiet. Unter dem flach einfallenden Sonnenlicht werfen Cumuluswolken lange Schatten, aus denen sich ihre Höhe auf 6 km abschätzen läßt.

Das angekündigte Sturmtief macht noch einmal einen Bogen um uns, dennoch sind unsere biologischen Kollegen wenig begeistert, sollten doch heute wieder die autonomen Fallen der Belgier ausgesetzt werden. Dieses System vervollständigt unsere Ausrüstung. Sie bestehen aus Plexiglasbehältern verschiedener Größe, die an beiden Seiten durch nach innen weisende, eine kleine Öffnung lassende Kegel verschlossen sind. Ein Ring aus Schwimmern umgibt die Behälter, und an einem Hakenmechanismus wird vor dem Einsatz ein Gewicht eingeklinkt. Dieses zieht sie zu Boden. Kleintiere, wie etwa Asseln und Amphipoden, lassen sich durch die Köder in die Behälter locken, und scheitern auf dem Rückweg an der Kegelspitze. Nach einigen Stunden, wenn das Schiff auf seiner Pendeltour zu der Einsatzstelle zurückkehrt, löst ein Funksignal den Haken, und das System treibt durch die Auftriebskörper an die Oberfläche, theoretisch dort, wo es zu Wasser gelassen wurde. Ein Lichtsignal funktioniert nicht, und so ist die Schiffsbesatzung auf den Radarreflektor angewiesen, dessen Echo allerdings allzuoft in der Wellendünung untergeht. Das wichtigere Hilfsmittel sind dann -- Ferngläser.

Großkastengreifer, robust, aber ausgeklügelt

Im Nebel fällt die Bergung schwer. Fast im Stundentakt wechselt das Wetter an diesem Tag zwischen Nebel und guter Sicht, als würden wir mit einem Flugzeug durch die gezeigte Wolkenlandschaft fliegen. Bei dichtem Nebel beträgt die per Lasergerät auf dem Peildeck gemessene Sichtweite unter 300 Meter. Der nach demselben Prinzip arbeitende Wolkenunterkantenmesser bestätigt den Wert; daß der eine Apparat seine Werte in Meter ausgibt, der andere in Fuß, hat vermutlich historische Gründe. Es ist angenehm, bei Nebel, der das Licht völlig gleichmäßig auf die Teleskope des MAX verteilt, auf dem Peildeck zu stehen. Die ruhige Abgeschiedenheit dieses Ortes spürt man mehr als bei klarer Sicht auf die nächste Insel. Abends rütteln wieder die Seitenschrauben durch das Schiff, deren Motoren bei einer bestimmten Drehzahl offenbar irgend eine Resonanzfrequenz der Schiffskonstruktion erwischen. Das Schiff dreht und wendet ziemlich lange und als ich nachfrage, stellt sich heraus, daß sie die Fallen nicht mehr finden. Auf der Brücke finden sich sämtliche Fernglasbesitzer ein, um zu helfen, jedoch vergeblich. Als die Fallen um Mitternacht noch nicht gefunden sind, bricht man die Suche ab. Denn das sonstige Programm muß weitergehen. Es gibt noch einen zweiten Satz Fallen an Bord, dennoch ist ein Totalverlust zu einem so frühen Expeditionszeitpunkt eine ärgerliche Sache.

Es folgt der erste Tag mit starkem Seegang. Das Zentrum des Sturmtiefs hat uns zwar umschifft, aber seine Ausläufer erwischen uns voll und liefern Windgeschwindigkeit bis über 20 m/s -- das ist gerade Windstärke 9 --, und hält den Tag über an. Das Schiff liegt so auf Kurs, daß die Wellen von vorne kommen, und das macht Spaß. Wellenberge bis 7 m Höhe rollen auf den Bug zu. Der im Freien liegende Teil des E-Decks wird für Nicht-Crewmitglieder gesperrt. Der Blick aus den Seitenfenstern zeigt einen um fast 40° schwankenden Horizont -- nichts für Seekrankheitskandidaten, deren einige es an Bord gibt. Michael und ich genießen unseren Logenplatz mit Bugfenstern, sehen zu, wie ab und an ein Brecher so auf den gerade wieder herniederstürzenden Bug trifft, daß der Aufschlag im ganzen Schiff spürbar ist, und die Gicht mit einem Hammerschlag an unsere Scheiben kracht. Wir hören, daß die Fontänen sogar die Brücke erreichen, gar über sie hinaus das Peildeck bearbeiten.

Einige sind schon da, als ich, zum ersten Mal auf meiner Fahrt, die Brücke besuche. Wir lehnen uns ganz nach vorne und stützen uns auf den Holzrahmen, hinter dem die Bedientasten für die Scheibenwischer liegen, deren Einsatz ab und an erforderlich wird. Ein imposanter Anblick bietet sich uns, als das Schiff sich auf und ab durch die Brecher kämpft. Diese sind weniger gleichmäßig, als man erwarten möchte. Unwillkürlich überlegen wir jeweils, ob diese oder jene den Bug wieder hart treffen und eine Gichtwolke produzieren wird.

Am Donnerstag ist der bereits angekündigte Geburtstag von Michael heran. Seine Gruppe hat zum Frühstück Teelichter und ein Geburtstagsständchen vorbereitet. Aber Angelika et al. haben noch anderes im Sinn. Michael ist dreißig geworden, und einem norddeutschen Brauch zufolge muß ein Mann, der mit dreißig noch nicht verheiratet ist, solange irgendwo im Dorf einen Hof fegen, bis eine Jungfrau kommt und ihn per Kuß erlöst. Um 10:15 wird er ausgerufen und aufs E-Deck beordert, wo Angelikas Überlebensoverall bereitliegt, eine schwere, orangefarbene Angelegenheit mit wasserdicht an die Hosenbeine genähten Gummistiefeln und einer Gesichtsmaske. Diese fast futuristisch wirkende Kluft ist vorgeschrieben bei Ausflügen in offenen Schlauchbooten sowie in Helikoptern, um bei evtl. Unfällen ein längeres Überleben im eisigen Wasser zu ermöglichen. In ihn muß Michael sich hineinzwängen, um die Dreißiger zu überstehen, und darin im Naßlabor eine ganze Kiste ausgestreuten Sägemehls auffegen.

Verschiedenste Formen

Die ganze wissenschaftliche Besatzung nimmt regen Anteil, alles steht an den Seiten und photographiert, was die Verschlüsse hergeben. Bis Gisela, Angelikas Mitarbeiterin, hereinkommt, in abenteuerlicher Verkleidung: Eine Perücke aus alten Stricke auf dem Kopf, Apfelsinen unter dem T-Shirt befestigt und eine klobige Chemiebrille sollen parodistisch klarmachen, warum die dargestellte Figur noch den Jungfernstatus hat -- wir lachen herzlich, und noch mehr, als Gisela sich Michael greift und ihn herzhaft abküßt. Ein Kasten Bier und Coke für alle schließt die Minifeier ab, die beiden Schülerinnen lassen es sich nicht nehmen, für den nächsten "Stern online" mit Michael zu posieren.

Die Feier ist eine willkommene Auflockerung der Routine gewesen. In den nächsten Tagen fischen wir ununterbrochen in einem Gebiet von nur wenigen Quadratkilometern Ausdehnung um Elephant Island herum, um die kleinskalige Variabilität der Fische und Tintenfische zu untersuchen. Im Vier-Stundentakt kommen die Netze hoch. Jeweils "ten to fifteen minutes" vorher gibt die Brücke eine Ankündigung über Lautsprecher, über welche auch Elektriker, Wissenschaftler und andere bei Bedarf ausgerufen werden. Die wachhabenden Offiziere machen sich zuerst noch einen Spaß daraus, originelle Ankündigungen zu erfinden. Ausgehend von "This is an announcement to all fishermen" über das politisch korrektere "...and fisherwomen" landet Frachtoffizier Steffen letztendlich bei "This is an announcement to all fishermen's friends". Die entsprechenden Experten, Uwe, Rüdiger, der nächste Woche nach mir Geburtstag hat, die Schottin Louise mit ihrer angenehmen Stimme und dem Akzent, und andere kommen dem Vernehmen nach auf ihre Kosten. "The cephalopods make a break for their lives", so wird es ein eines Abends spontan gedichtetes Lied beschreiben. Hochaktuelle Themen drängen sich in den Vordergrund, etwa die Hämatome, die sich Leute beim Stolpern wegen des Seeganges hier zuziehen. Ich beschäftige mich weiter mit meinem Programm, nichts spektakuläres, aber ich komme rasch voran.

Am Samstag wird Brigitte, Angelikas Kollegin, 49. Gisela spielt auf ihrem Cello auf, das sie an Bord gebracht hat, um jeden Abend oben in der Bücherei, das gleichzeitig als Edelcasino für besondere Anlässe dient, eine Stunde zu üben. Beim Kaffee wird der vom Schiffskoch beigesteuerte Kuchen ausgeteilt. Unbezahlbar sind die Erzählungen aus den Gruppen. Von dem Sezieren toter Fische im Studium, aus deren Köpfen Knochen entfernt werden mußten, wobei ausgerechnet der Kieferknochen, der zu untersuchen war, verlorenging und in der mehligen verbliebenen Masse gesucht werden mußte. "Habt Ihr ihn zuletzt gefunden?" "Nein." Von einem Prof. Dr. mult., Mitglied des Lions Club, der Jahre lang nicht mit seiner Frau in Urlaub zu fahren die Zeit fand. Bis sie ihm ein Ultimatum stellte, er endlich eine Reise buchte, um sie einen Tag vorher abzusagen. Gerüchten zufolge betreibt er Photosynthese, um auch noch die Zeit für das Essen zu sparen.

Eismassiv in der Dämmerung

Der dritte Sonntag an Bord ist der letzte Tag vor Elephant Island, endlich wird der Fischzug hier beendet sein. Das gegen Nachmittag klare Wetter lockt Ausflügler aufs Peildeck. Ich nehme mir auch ab drei Uhr frei, und lese endlich einmal Papers über die lokale Fauna durch, die ich inzwischen gesammelt habe. Viele Fachbegriffe kenne ich noch von einer Zoologievorlesung her, für einige muß ich meine Lateinkenntnisse bemühen. Die abendliche Ankündigung "The last catch from Elephant Island" löst in der Messe einen Applaus aus, der bis in unsere Kabine brandet.

Am Mittwoch habe ich selbst Geburtstag. Angelika und ihre Gruppe richten mir eine kleine Feier zum Frühstück aus, mit Teelichtern und Papierschlangen. Wiebke hat mir eine sehr schöne Karte gebastelt, Michael schenkt mir eine CD. Der Fahrtleiter überreicht mir, wie den anderen zuvor, ein Buch über die Geschichte der deutschen Polarforschung, ein interessantes Werk, das zum Schmökern einlädt. Später erwischt Gillian mich auf dem Peildeck und überreicht mir eine weitere Karte, auf der fast die ganze wissenschaftliche Crew unterzeichnet hat. Am folgenden Donnerstag ist Rüdiger an der Reihe, und wir richten gemeinsam im "Zillertal" eine Party aus. Ich bin immer mehr überrascht, wie gut hier die Gemeinschaft von so verschiedenen Leuten funktioniert, und wie warmherzig man eingebunden werden kann.

Der vierte Sonntag ist Tag der offenen Tür bei den Amphipoden und Isopoden. Pat und Claude führen kleine Gruppen durch ihren Kühlcontainer, erklären die unterschiedlichen Arten und ihre Eigenschaften, mit denen sie sich ihrer Umgebung angepaßt haben. Einige der Amphipoden (deren Gliedmaßen im Gegensatz zu den Isopoden unterschiedlich gestaltet sind) wandern auf ihren Beinen über den Meeresgrund, fressen nur pflanzliches Material, andere greifen sich vorüberschwimmende Kleinsttiere, wieder andere können mit ihren Hinterbeinen, den Pleiopoden, rasch schwimmen und machen Jagd auf noch lebende Beutetiere. Einige Arten sind nur Millimeter groß, andere erreichen Handtellergröße und werden mehrere Jahre alt. Im Labor von Angelikas Gruppe sind einige Specimen unter den Mikroskopen vorbereitet, z.B. Borstenwürmer, die in aufrecht stehenden Röhrchen auf dem Meeresboden leben, durch die sie Wasser strudeln, um die Nährstoffe herauszufiltern. Eine Amphipodenart hat noch Augen, obschon sie aus der stockfinsteren Tiefsee geborgen wurde. Angelika erklärt mir, daß die Augen zurückgebildet und nicht mehr funktionsfähig sind, daß deren Vorhandensein aber auf einen Ursprung dieser Art in seichterem, und hellerem, Schelfgewässer näher dem Kontinent hindeutet, von wo sie vor Millionen von Jahren durch z.B. Umwelteinflüsse oder Freßfeinde in die Tiefsee verdrängt worden sind.

Am Montag nachmittag sehen wir, nach der "MS Bremen" einige Tage zuvor ("Das sind die, die für so eine Fahrt hier 15000 Mark zahlen", kommentiert Michael trocken und treffend), einen Ukrainer, der Krillforschung für die USA betreibt. Ca. zwei Seemeilen entfernt läuft der Trawler vor dem Kap von Livingston Island entlang, dessen Felsen teils wie düstere Hexenschlösser anmuten, wenn sie sich aus dem Nebel erheben.

In die Admirality Bay

Nicht mehr jeden Abend finden sich Freiwillige fürs "Zillertal", also machen sich die Leute in Gruppen ihre eigene Unterhaltung. Eine Runde beginnt mit Doppelkopf, eine andere veranstaltet eine Gesangsrunde mit gemeinsam komponierten Liedern zu Chris' Gitarre. Eines beschreibt das Leben auf "Home Sweet Home Polarstern": "The schedule couldn't be any tighter, what the day'll bring -- I guess that depends on the Fahrtleiter". Ein dem Rap ähnliches Lied liest rhytmisch die nicht endenden Statusmeldungen des Infoschirmes ab: "Otter boards on deck; stop trawling - tuuuurn!" Ein anderes, der mir bekannten Melodie eines mir wiederum nicht bekannten Liedes angepaßt, beschreibt tragend ein Schiff, "called Polarstern", die ihren ganzen Sprit um Elephant Island verbraucht. Die Tintenfische flitzen um ihr Leben. Die Fallen sind verschollen; die Brückencrew starrt auf den Radarschirm, bis sie rote Augen hat, doch "they can't find the Belgian toys". Pat beobachtet die "DoKo"-Runde, und er und Michael witzeln über das Verhältnis von Physikern zu Kartenspielen.

Der letzte Mittwoch an Bord ist der Tag der ersehnten Rettungsbootübung. Wir laufen in die Admiralty Bay am Südufer von King George Island ein, und die Gletscher bieten aus geringer Distanz, mit ihren Wolkenkämmen, einen beeindruckenden Anblick. Vier Boote, sogenannte "Zodiacs", besitzt die "Polarstern", jedes faßt gut 20 Personen. Die orangefarbenen Kunststoffgefährte sind rundum verschlossen, um in schwerer See kein Wasser zu nehmen, und verfügen über eigene Dieselmotoren und Trinkwasserreserven. Während die Besatzung das Aussetzen trainiert, versammeln sich alle Ausflügler schon in roten Overalls und Rettungswesten auf dem E-Deck. Die Schüler kommen etwas später, in voller Überlebensmontur -- sie werden mit einem der Professoren eine Fahrt im offenen Schlauchboot unternehmen, mit dem Ziel, an Land zu gehen und eine Forschungsstation zu besuchen.

Bootsausflug ins Eis

Nacheinander legen drei Zodiacs von der "Polarstern" ab und steuern in die Bay und den beginnenden Schneeschauer hinein. In der Bay schwimmen kleine Eisberge, jeweils um die zehn Meter messend. Wir umfahren sie, und entfernen mit einer Hacke kleinere Stücke, die wir mit langen Piken heranziehen und über die Kante hieven. Unser Boot rammt versehentlich eines der Berglein, versenkt es zwar nicht, aber bricht ein großes Stück ab. Daniel angelt mit der Pike, ich halte kurz seinen Stiefel fest, damit nicht er es ist, der die Seiten wechselt. Die Eisberge sind völlig rein, bläulich schimmert das Licht durch die Sockel, welche die Miniaturbrandung glatt gewaschen hat. Teppiche kleinerer Eisstücke in Schneeballgröße umgeben die eisigen Inseln. Der Schnee hat unterdes eine Decke auf der kalten Plastikwand der Zodiacs gebildet, und sooft sich zwei Boote in geringer Entfernung begegnen, ist rasch der Schnee von den offenen Luken aus heruntergestreift und zu Wurfgeschossen geformt, die Stimmung erreicht ihren Höhepunkt. Wir umfahren mehrere Berge, und am Ende geht es entlang an einer gewaltigen Gletscherwand, die sich aus dem Nebel emporhebt.

Als wir zurückkehren, und über die Strickleiter das E-Deck erreicht, uns aus den Overalls geschält haben, bietet sich auf dem Peildeck eine Schneelandschaft dar. Und ein weiterer Eisberg, auf dem Regina etwas schwarzes ausmacht, das sich durchs Fernglas als einzelner Pinguin entpuppt. Ganz ruhig steht er da, wie Captain Cook auf seinem Achterkastell. Die Schüler photographieren mit den Teleobjektiven. Aber diese Attraktion verblaßt vor dem, was in just der folgenden Nacht bewundert werden kann.

Um Dreiviertel Eins beende ich wie gewohnt meine nächtlichen Kalibrationsmessungen, als ich den Sicherheitsoffizier Udo die Brücke betreten sehe -- mit einer Videokamera. Etwas erstaunt frage ich ihn, was er um diese Zeit auf der Brücke filmen möchte, worauf er verheißungsvoll erwidert: "Eisberge". Ich folge ihm, und sehe das Schauspiel: In tiefer Nacht gleitet die "Polarstern" zwischen Eisbergen hin, bis zu mehreren hundert Metern messend. Der Wachhabende erfaßt die jeweils nächstgelegenen drei Bordscheinwerfern erfaßt, die sie in strahlendes Licht tauchen, das vom Eis reflektiert wird. Ganz unterschiedliche Formen und Aufbauten weisen die Berge auf, wie sie majestätisch im Wasser liegen, sich teils langsam drehen. Ich eile hinab, um die Schüler zu wecken, als ich zurückkomme, sind auch Gillian und ihre Kabinengenossin Kari auf der Brücke, die durch das Licht durch ihr Bullauge aufmerksam geworden sind. Das Schauspiel hat einen guten Grund. Zwar sind die Berge selbst auf dem Radar leicht erkennbar, so daß keine Kollisionsgefahr besteht. Die Scheinwerfer werden jedoch eingesetzt, um kleinere Stücke zu erkennen, die gelegentlich abbrechen können, und deren schwächeres Radarecho in jenem der Dünung untergeht. Diese können uns zwar nicht versenken, aber dem Rumpf dennoch Beulen zufügen, deren Schaden in die Hunderttausende geht -- abgesehen davon, daß so ein Stoß unten alles aus den Kojen fegt.

Eisberg mit Architektur

Ein mächtiger Eisberg, etwa 1 km entfernt, besitzt einen eigenen ausgedehnten Schneestrand. Auf ihm entdecken wir ein schwarzes Gesprenkel. Durch das Fernglas erweist sich dies als Kolonie von Pinguinen, die auf dem Eisberg reisen wie unser Reisegefährt von gestern nachmittag, und sich zum Schlafen niedergelegt haben. Sicherlich finden die Tiere unsere Lightshow nicht ganz so romantisch wie wir. Gut eine halbe Stunde verweilen wir, dann sind die Berge vorüber; der Wind frischt stark auf, erreicht bis Stärke 8. Der wachhabende Offizier muß einige unserer Kollegen vom Peildeck vertreiben, die dort oben Flugstunden zu nehmen versuchen. Jedoch lohnt ein Blick nach oben, denn der Wind hat die dichte Wolkendecke, die während fast jeder Nacht über dem Schiff hing, zerrissen und fortgeweht. Nun ist der Blick frei auf den antarktischen Sternenhimmel. Schimmernd hängt das Band der Milchstraße über uns, deren dichtesten Teil man nur hier im Süden betrachten kann. Von ihm ausgehend findet man leicht das Kreuz des Südens, Orion und andere Formationen. Leider haben wir keine Sternkarte greifbar, und der starke Wind läßt ein genaues Himmelsstudium auch nicht zu.

Auch der folgende Donnerstag bringt Eisberge mit, dieses Mal noch größere Exemplare im Kilometerbereich. Es ist, als ob uns der Vorhof der Antarktis in unserer letzten Woche noch einmal ihre volle Schönheit bieten wolle. Leider kann er uns nicht bei sich behalten, der "tight schedule" ist unerbittlich. Wir beenden gerade unser Mittagessen, als die Brücke die Eisberge meldet. Wieder findet sich alles auf den Decks ein. Anders als bei den kleineren Bergen des Vortages und der letzten Nacht tritt hier der Tafelbergcharakter augenfällig zutage, der typisch ist für die Eisberge des Südpols und der es uns erlaubt, in so geringer Distanz von nur mehreren hundert Metern die mächtigen Blöcke zu passieren. Anders als im Norden gleitet das Eis des Südens auf der antarktischen Landmasse in Gletschern zu Wasser, welche von sich aus bereits flach sind. Ragt ein zu langes der gewaltigen Eisbretter ins Wasser, so bricht es entlang einer fast vertikal aufsteigenden Bruchfläche ab, wenn ich Christines Erklärung des Phänomens richtig verstehe. Im Norden sind die Stücke unregelmäßig, darum ist unter Wasser mit starker Verbreiterung zu rechnen, die damals die "Titanic" das blaue Band und noch einiges mehr kostete. Die Tafeleisberge jedoch gehen unter Wasser vertikal nach unten weiter, etwa zwei Drittel der Quader sind unter Wasser, eines darüber.

Tafeleisberge -- rudelweise

Vertikale Brücke und Risse durchziehen die Berge, wahrscheinlich durch interne Spannungen verursacht, etwa durch über die Länge hin unterschiedlichen Aufwärtsdruck des Wassers bei starkem Seegang. Aus einigen Bergen sind in der Mitte Stücke herausgebrochen, wie verfallene Städte wirken die übrigbleibenden Eistürme. Unten, über der Wasserlinie, hat die Brandung Kavernen und Torbögen ausgewaschen, die wiederum bläulich schimmern. Ein halbes Dutzend der Berge driftet nahe beieinander dahin, als ob ein gewaltiger Berg nach seiner Loslösung vom Gletscher in kleinere zerborsten wäre. Bis zum Nachmittag ziehen die Eisberge wie in einer Prozession vorüber, und der mächtigste ist obendrein mit dem Sonnenuntergang kombiniert.

In der Nacht darauf bin ich es, der nach den Kalibrationsmessungen die relative Windstille bemerkt, und abermals nach oben schaut. Der Himmel ist klar, und nun steht einem Ausflug zu den benachbarten Sternkonstellationen nichts mehr im Weg. Ich hole Katharina und Markus herauf, die noch spät im Salon arbeiten, und ferner Jim und Bob, der mir seine Ausgabe einer Astronomiezeitschrift geliehen hat. Es dauert einige Minuten, bis das Auge an die Dunkelheit adaptiert ist, die von keinem Hochhaus, keiner Autobahn, keiner Straßenlaterne gestört wird, wie das im dicht besiedelten Deutschland so oft der Fall ist. Von Minute zu Minute können wir mehr Details, kleinere Sterne ausmachen. Bob gibt uns eine provisorische Führung, soweit er seine Karte memoriert hat. Wir müssen aufpassen, beim Blick nach oben nicht das Gleichgewicht zu verlieren, suchen besseren Halt, und schauen weiter. Es ist unbezahlbar, dies noch einmal zu sehen, denn es ist ungewiß, wann wir wieder hier herunterkommen werden.

Eisberg en miniature

Die letzten Tage vergehen wie im Flug. Wir verlassen die 60°-Zone. Es gibt noch eine Fischereistation nördlich der South Shetlands. Das Schiff manövriert fortwährend, um das Netz trotz seitlicher Strömungen gerade hereinzuholen, denn sonst kann das jeweils stärker belastete Tau abreißen. Die Sonne scheint fast den ganzen Tag.

Am letzten Sonntag auf dem Schiff möchte ich eine Sache noch nachholen, und zwar das Beobachten einer Bergung des Boxcorers. Gleich nach dem Frühstück begleite ich Brigitte nach unten. Aus fast 4000 m steigt das Gerät herauf, die Seeleute heben es vorsichtig über die Reling. Sie haken die Winde los, um inzwischen den Multicorer auf den Weg zu bringen, und Brigitte, Jim, Marie und andere lösen den Kasten aus dem Rahmen. Der Versuch war erfolgreich, feines, sandiges Sediment füllt die Behälter. Erst später bemerken wir die Delle in der Kante des Kastens, wo er offenbar auf einem Stein gelandet ist. Auch der EBS soll kurz vor Toresschluß nochmals einige Dellen davontragen. Wir schrauben die Querstangen heraus, und holen nacheinander die 25 Unterkästen heraus. Mit Hilfe eines auf dem Boden stehenden Holzstabes drücken wir jeweils die obersten 10 cm Sediment heraus, der Rest geht über die Reling. Mit einem Wasserschlauch und Sieben filtern die WissenschaftlerInnen die Lebensformen heraus. Derweil reinige ich die Kästen, stapele sie an der Wand auf. Beim Herausdrücken der Proben finde ich Steine, einige mit Manganknollen, die sie am Meeresboden erhalten haben. Als Lohn kann ich sie behalten. Diese Steine mögen nicht schön aussehen, aber wer hat schon Souvenirs aus der Tiefsee?

Am Dienstag reinigen wir in Gruppen den Computerraum, das Schwimmbad, die Sauna, und bringen in etwas gedrückter Stimmung unsere Seesäcke wieder hinunter. Der Fahrtleiter und die Besatzung veranstalten einen Umtrunk im Salon. Karten und Büchlein für Adressen und Emails wandern umher und werden signiert; jede Gruppe erstellt einen möglichst kreativen Eintrag für das Gästebuch. Die Labors werden geräumt, die Daten auf CD gebrannt. Der letzte Abend klingt in der Messe aus, es will aber keine rechte Feierstimmung aufkommen. In der Ferne künden die Rauchfahnen der Bohrstationen vor der Einfahrt zu Punta Arenas von der wieder viel zu nahen Zivilisation. Als wir am Mittwoch aufwachen, haben wir bereits gedockt. Wir frühstücken, packen zu Ende, verabschieden uns von den Besatzungsmitgliedern, mit denen wir uns so gut verstanden. Mit unseren Koffern beladen, verlassen wir das Schiff. Einige werden noch während der nächsten Etappe an Bord bleiben, wie etwa Michael und Wiebke. Ich beneide sie ein wenig. Ein Bus bringt uns übrigen ins Hotel.

Maghellanpinguine

Gert hat mit unserem Reiseagenten einen Bus bestellt, der die Schüler, ihre LehrerInnen, Christine, Rüdiger und ihn zu einer nahen Pinguinkolonie bringt. Ich kann teilnehmen, wir teilen uns die Kosten. Etwa 80 km von Punta entfernt, in einer Pampa mit verschiedenen, wilden Gras- und Moosarten, zieht eine Kolonie von Magellanpinguinen jedes Jahr um diese Zeit ihre Jungen groß, bevor sie mit dem dann herangewachsenen Nachwuchs wieder nach Süden zieht. Auf der Fahrt sehen wir Landus, die hiesige, kleinere, graugesprenkelte Variante der Straußenvögel. Wir kaufen uns Eintrittskarten und betreten den Park. Die Pinguine, etwa einen halben Meter groß, haben sich jeweils zu zweit Erdhöhlen unter der Grasnarbe ausgeschachtet, vor denen sie jeweils zu zweit sitzen, sich gegenseitig putzen, und ihre Jungen behüten. Zäune markieren den vorgeschriebenen Weg und halten die Besucher auf Abstand. Eine erhöhte Plattform bietet Aussicht auf die Gruppe. Es ist schon seltsam, diese Tiere, mit denen die Antarktis zu hause identifiziert, ja fast gleichgesetzt wird (wie vor einem Jahr Sibirien mit "kalt"), erst in geringer Distanz zu sehen, als die Seereise bereits beendet ist.

Nach dem Ausflug streune ich noch ein wenig durch Punta. Abends gibt es wieder gemeinsames Essen in demselben Lokal. Der Rückflug am nächsten Tag verzögert sich, weil die 767 nicht rechtzeitig bereitsteht, aber letztlich bekommen wir den Anschluß. Uwe bleibt noch ein wenig in Santiago; dies würde ich auch gern, wie vor einem Jahr in Moskau finde ich es etwas schade, von einer großen, schönen Stadt nur zwei Flughafenterminals zu sehen. Aber ich fliege wie geplant weiter über Madrid nach Frankfurt. Ich habe zu hause eine Menge zu arbeiten. Und zu erzählen.


Diese Seite darf unter der GNU FDL (auch verändert) weiterverbreitet werden. Näheres in unserem Impressum.

Druckfassung

Erzeugt am 26.06.2002

unimut@stura.uni-heidelberg.de